Oft frage ich mich, wer eigentlich immer so liest, was ich hier im (heuer erstmals unterbrochenen) Zwei-Monats-Rhythmus schreibe und was die dann davon halten. Eine der seltenen Rückmeldungen bekam ich neulich, als ich in diesem merkwürdigen Sommer 2020 den eingeschränkten Flugverkehr nutzte, um am Inn zu baden ohne alle halben Stunden von ohrenbetäubendem Lärm gestört zu werden.
Ich hatte gerade im neuen Buch des Philosophen Paul B. Preciado gelesen, eine Sammlung von Kolumnen. Preciados darin geschildertes Leben kommt zumindest meinem Ideal des objektiv guten Lebens sehr, sehr nah (sieht eins einmal von den Zumutungen ab, die die Gesellschaft Preciado wegen seines Trans-Seins bereitet): Preciado berichtet davon, in verschiedenen europäischen Großstädten aufregende Texte zu lesen, aufregenden Sex zu haben, Aufregendes zu denken und dann Kolumnen darüber zu schreiben. Wie schön wäre es, wenn alle (oder zumindest alle, die das wollen), so leben könnten! Auch wenn das Reisen in verschiedene Großstädte gerade aus offensichtlichen Gründen unmöglich ist, bin ich persönlich vielleicht eh auf einem halbwegs guten Weg dahin, dachte ich dann, während ich mein Handtuch und das Kolumnen-Buch zusammenpackte, um heim zu radeln, queere Countrymusic zu hören, Gin Tonic zu trinken und den Film „ Sister Act“ zu schauen, während draußen das Gewitter niedergehen würde. Und da sprach mich eben ein Leser dieser Kolumne an. Mein Leser zeigte sich skeptisch, wie viel Leute aus dem Umfeld der p.m.k. mit Britney Spears anzufangen wüssten, dem Thema meines letzten Textes hier. Da wie gesagt direktes Feedback ansonsten rar ist, weiß ich das leider nicht.
Das lässt sich nun leider nicht sagen über die Meinungen meiner Mitmenschen zu anderen Themen – vor allem zum aktuell scheinbar alles bestimmenden Thema. Wenig überraschend gibt es hier Corona-Leugnende und vor dem Virus Warnende. Überraschend ist vielleicht schon eher, dass nicht nur die allerüblichsten Verdächtigen die eingefleischstesten Corona-Leugner sind, sondern die Grenzlinien auch quer durch die einschlägigen Gruppierungen und die herkömmlichen Meinungsblasen verlaufen. Jede Partei ist jedenfalls aus der Sicht der jeweils anderen komplett und unrettbar ignorant und jede getroffene oder unterlassene Handlung durch und durch falsch und verdammenswert. Deutlich wird dies vielleicht auch bei einem lokalen Subthema, den nun auch ins Mainstream-Bewusstsein gelangten illegalen Sillschlucht-Raves. Hier beharren die einen mit allem Fug und Recht darauf, dass jede unnötige Ansammlung von Menschen in einer globalen Pandemie ein unverantwortliches und nicht tolerierbares Risiko für die Beteiligten und alle anderen darstellt. Und schon auch irgendwie nachvollziehbar argumentieren andere, das Bedürfnis danach, sich zu versammeln, nach Feiern, Exzess und Unvernunft (auch meiner Meinung nach Zutaten des guten Lebens) gehe davon halt nicht einfach weg.
Könnte angesichts dieses unlösbaren Widerspruchs vielleicht ein Denken wie das von Preciado weiterhelfen? Die Kolumnen seines neuen Buches kreisen auch darum, wie Unterscheidungen zwischen starren Entweder-Oders starre Grenzen errichten. Seien es so genannte Geschlechtergrenzen, seien es nationale Grenzen: Alle jene, die diese überwinden wollen oder müssen, werden von unserer Gesellschaft (die auf diesen Grenzen aufbaut) entmenschlicht, ausgestoßen, verleugnet. Preciados nachvollziehbare Reaktion ist, diese Gesellschaft abzulehnen. Und die vorgegebenen Unterscheidungen und Grenzen nicht anzuerkennen, sie zu überschreiten und aufzulösen. Die durch die Unterscheidung ausgeschlossene dritte Möglichkeit zu suchen, oder Möglichkeiten jenseits dieser falschen Unterscheidung und ihren falschen Alternativen.
Könnten wir also vielleicht auch die vergleichsweise banalen Pro- und Kontra-Diskussionen zu den illegalen Sillschlucht-Raves anders denken? Was wäre, wenn etwas komplett daneben und irgendwie ok sein könnte – gleichzeitig? Was wäre, wenn wir mit unseren Debatten weiter und wo anders hinkämen, wenn wir nicht immer auf den Gegensätzen aufbauten, die uns vorgegeben wären? Wenn wir die Coping-Strategien unserer Mitmenschen angesichts einer Pandemie jenseits einer einfachen Pro- und Kontra-Diskussion sähen? Oder sind das alles abgehobene Flausen, die niemand konkret weiterhelfen und die sich den real existierenden Problemen (es geht hier immer noch um Menschenleben) naiv bis zynisch entheben (eine Kritik, die Preciado auch entgegen gebracht wurde)? Oder brauchen wir (neben vielem anderen!) ein solches Denken auch, wenn es irgendwann endlich das gute Leben für alle geben soll?
- Martin Fritz