Fremd im eigenen Hausmeister des Wahnsinns

Neulich entdeckte ich, wie großartig das Solowerk der als Sängerin der Band Velvet Underground bekannt gewordenen Nico eigentlich ist – darauf erst im gerade vergangenen Jahr 2018 zu kommen, zeugt schon von einer beachtlichen Ignoranz.

Sie kann daher rühren, dass ich 2018 immer noch das Smartphone- Spiel Pokémon Go spiele, das über mein Fühlen und Handeln mehr Gewalt hat, als mir lieb sein kann. Ein Spielziel dabei ist es, kleine Monster namens Pokémon zu fangen, denen die Spieler*innen dann personalisierte Namen geben können. Ich benenne meine Pokémon nach einem einfachen Prinzip: Die stärksten benenne ich nach meinen aktuellen Lieblingsautor*innen, die von der Art Austos nach meinen Lieblings-Drag-Queens der TV-Show RuPaul’s Drag Race, die mittelstarken benennen ich nach Lana-del-Rey-Songs und dann kommen eh schon die schwächeren Pokémon, die nach Nebenfiguren aus der Hörspielserie Die drei Fragezeichen oder berühmten Hunden (z.B. Lotte Tobischs Dagobert) benannt werden.

Und während ich gerade überlegte, ob ich nicht einige meiner Spiel-Monster besser nach dem Kaders des legendären United States Women‘s National Soccer Team für den World Cup 1991 benennen sollte – das so genannte Triple-Edged Sword (Carin Jennings, April Heinrichs und Michelle Akers) würde doch sicher viele andere Pokémon-Spieler*innen beeindrucken – erreichte mich die Nachricht, dass jene Zeitschrift, die wohl wie keine andere den deutschsprachigen Pop-Diskurs geprägt hat, die Spex, mit Ende des Jahres 2018 eingestellt wird (ebenfalls 2018 verschieden: die Musikzeitschriften Intro und Groove; die letzte Printausgabe der De:Bug ist schon vier Jahre her).

In vielen Nachrufen wurde eine Ursache fürs Musikzeitschrift-Massensterben gefunden: Dieses verdammte Internet habe sie am Gewissen. Die jungen Leute lassen sich lieber von Streamingdiensten wie Spotify etc. personalisierte Musik-Empfehlungen ausstellen, statt lange und unverständliche Artikel in der Spex zu lesen. Wie so viele habe auch ich jedenfalls jahrelang die Spex mit religiösem Eifer (fast nichts verstanden, alles geglaubt) gelesen, durch sie meine Lieblingsband Xiu Xiu entdeckt (übrigens habe ich fast seit Anbeginn dieser Kolumne eine Anekdote vom letzten Konzert dieser Band in der p.m.k. auf Lager, die ich bisher in noch keiner Kolumne unterzubringen geschafft habe – vielleicht kommt es 2019 mal dazu) und verdanke ihr bis heute wesentliche Teile meiner Welt- und Popsicht. Zur Zeit meiner größten Spex-Abhängigkeit, in den frühen Nullzigern, entdeckte ich zudem das Regal namens Expedit des Möbeldiskonters IKEA, das bei Plattensammler*innen beliebt ist, weil Höhe und Tiefe eines Regalfachs darin genau einer Langspielplatte entsprechen. Außerdem passen genau jeweils eine Doppelreihe Bücher des Suhrkamp-Verlags und eine des (für Übersetzungen französischer dekonstruktivistischer Theorie bekannten) Merve-Verlags übereinandergestapelt hinein. Mangels Plattensammlung war mein Expedit ebendamit gefüllt, und die unterste Reihe mit einigen Jahrgängen Spex und De:Bug, worauf ich mir insgesamt sehr viel einbildete.

Erst heute ist mir klar, dass die einzige Person, die ich mit der exakt austarierten Mischung aus Suhrkamp, Merve und Spex (die nebst Schallplatten zusammenzutragen damals meine Hauptbeschäftigung war), hätte beeindrucken können (noch dazu in dieser Provinzkleinstadt) damals wie heute ich selbst bin. Ebenso wie bei Licht betrachtet niemand außer ich selbst die Auswahl und Zusammenstellung meiner Pokémon-Namen wirklich angemessen goutieren kann. Ich habe mir eben ein (auch in dieser Kolumne sich langsam ausbreitendes) komplexes Referenzuniversum entwickelt, in dem Sinn und Wahnsinn von außen wie von innen nur mehr sehr schwierig zu unterscheiden sind. Die Spex konnte das (für mich) einige Jahre lang, indem sie Gravität und Ernst durch überkandidelte Hysterie und Unernst herstellte (und umgekehrt) und durch Willkür (für fast niemand, für die aber absolut) verbindliche Ein- und Ausschlüsse erzielte und umgekehrt (weshalb sie in einem Nachruf auch nach einem Nico-Song als „Hausmeister des Wahnsinns“ bezeichnet wurde). Weniger gespreizt gesagt: Die Spex konnte mir sagen, was geht. Jetzt kann das halt was anderes.

Darauf, dass dieser wahnsinnige Hausmeister eben auch viele ausschloß, sodass das Zuhause der Spex sich für viele (Frauen*, Queers, Nicht-Weiße etc.) sehr fremd anfühlte, haben die Grether-Schwestern in ihrem Spex-Nachruf in der Zeitschrift Texte zur Kunst hingewiesen. Wie recht sie doch haben! Vielleicht ist es kein Zufall, dass es nebst Internet eine Musikzeitschrift noch gibt: die Missy.
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Martin Fritz