Weil in der schlechten Jahreszeit das Minigolf-Spielen (meine neue Leidenschaft) und das Baden (ich berichtete) hierzulande nur schwierig zu bewerkstelligen und die Alternativen aus leidlich bekannten Gründen gerade rar sind (Shoutout an dieser Stelle an Ausnahmen wie z.B. Heart of Noise oder Diametrale, die trotz allem Live-Veranstaltungen wagten und somit der kompletten zwischenzeitlichen Verödung unserer Provinzstadt entgegenwirkten), habe ich zuletzt viel Zeit vor Bildschirmen verbracht.
Kein geringer Teil dieser Bildschirmzeit entfiel darauf, das ich das zu einem Gutteil auf YouTube frei zugängliche Gesamtwerk des kolumbianisch-US-amerikanischen Filmemachers Brian Jordan Alvarez studierte. Alvarez verdient sein Geld mit kleineren Rollen in kommerziellen Fernsehserien, während er in seiner Freizeit eigene Low-Budget-Serien und -Filme dreht und sie im Netz veröffentlicht. Am bekanntesten ist seine Mini-Web-Serie „The Gay and Wondrous Life of Caleb Gallo“, das witzigste, positivste, genaueste und berührendste Portrait eines queeren polyamourösen Freund*innenkreises, das ist kenne (streng betrachtet auch das einzige). Kaum vorstellbar, das jemand nach dem Schauen der Serie nicht Teil dieser Gang werden wollen würde. Dass wir glauben, dass diese Figuren eng an den sie darstellenden Schauspieler*innen angelehnt sind, ist gewiss intendiert und wird dadurch verstärkt, dass das mehr oder wenige gleiche Ensemble z.B. auch in Alvarenz’ erstem abendfüllenden Film „Grandmother's Gold“ mitspielt.
Dieser Film spielt im Jahr 2023, in dem das Internet aus nicht näher erläuterteten Ursachen abgeschaltet ist. Gelegentlich erinnern sich die Figuren mit Sehnsucht an das Netz, aber es ist nun halt nicht mehr vorhanden. Es geht ihnen wohl ein bisschen so, wie es uns jetzt geht, wenn wir Fotos anschauen von dichten abstandslosen Ansammlungen von Menschen. Für Alvarez’ Schaffen typisch wird diese Tragik jedoch aufgefangen von einer Leichtigung und Lustigkeit, mit der sich die Filmhandlung nach einer drohenden Apokalypse komplett anderswohin entwickelt um in einer gleichzeitig und genau gleichermaßen vollkommen übertrieben kitschig parodierten und ernst gemeinten besinnlichen Weihnachtsfeier zu münden.
Auch Josefine Riecks’ Debütroman „Serverland“, den ich in Bildschirmpausen ganz altmodisch auf Papier las, spielt in der nahen Zukunft und auch hier wurde das Internet aus nicht genauer genannten Gründen abgeschaltet. Rieks erzählt von einer Gruppe Jugendlicher, die in die nachwievor bestehenden, nur eben vom Strom- und Telefonnetz getrennten Serverfarmen einsteigen, dort einzelne Bruchstücke aus dem früheren Netz auf Festplatten ihrer antiquarischen Laptops kopieren und aus diesen zufälligen Schnipseln Rückschlüsse auf das Netz zu ziehen versuchen. Ausgerechnet angesichts des Musikvideos zu Robbie Williams’ Song „Rock DJ“, das sie so finden, diskutieren die Jugendlichen über die (Un-)Möglichkeit, dieses als Protest zu verstehen. In ihrer Welt gibt es alles, was Spaß macht oder Nicht-Konformität bedeutet, in einem solchen Maß nicht mehr, dass viele gar nicht auf die Idee kommen, dass und warum es so was geben könnte.
Es ist ein bewährter Kunstgriff, Reflexionen über eine Sache anzustellen, indem eine Erzählwelt entworfen wird, in der sie fehlt. Und die Art wie Rieks (und in völlig anderer Weise Alvarez) das Internet in ihrer Kunst mittels seines Fehlens thematisiert, arbeitet dessen Ambivalenz (und damit so vieles, woran wir alle gerade laborieren!), so präzise heraus, dass ich beim Willen nicht verstehe, warum Serverland (und in völlig anderer Weise Grandmother’s Gold) nicht allgemein als das bedeutsame Kunstwerk unserer Zeit erkannt wurde, das es ist.
Denn ich bin alt genug, um mich noch an die wahnsinnigen utopischen Hoffnungen zu erinnern, die an das junge WWW geknüpft wurden und verstehe die Enttäuschung angesichts seine aktuellen Zustands: eine klimaschädliche Mischung aus sinnlosen Streits, miserabler Pornographie und gefährlichen Verschwörungsmärchen (denen anscheinend auch Robbie Williams verfallen ist) in der Hand weniger Konzerne. Manchmal kommt auch mir der Gedanke, ob es nicht besser wäre, es abzuschalten.
Aber ganz ohne leben? – Nein, danke! Denn immerhin habe ich von Rieks’ Buch und Alvarez’ Filmen dort erfahren und dank ihnen in dieser Zeit der fehlenden, nicht-bildschirmvermittelten Nähe zu Menschen trotzdem Freude und Erkenntnis verspürt. Wenn sich also keine Möglichkeit einer Minigolf-, Bade- und Konzert-Wintersaison finden lässt, sehen wir einander halt in diesem verdammten furchtbaren Internet, das wir immerhin noch haben.
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Martin Fritz