There’s No Place Like Hawkins, Indiana

Foto by Daniel JaroschNeulich war ich Teil einer Performance, bei der ich naturgemäß Schleicher tanzte, da auch das zu meinen liebsten Zeitvertreiben (gleich nach den im letzten Programmheft erwähnten Tätigkeiten*) gehört. Unpassenderweise oder passenderweise (das ist häufig schwierig zu entscheiden) dachte ich dabei oft an die Schlussszene der zweiten Staffel der Retro-Mystery-Fernsehserie „Stranger Things“, in der die die Hauptfiguren darstellenden Kinder bei einer am 15. Dezember 1984 an ihrer Mittelschule abgehaltenen Tanzveranstaltung namens „Snow Ball“ Schleicher tanzten, oder wie sie es in Hawkins, Indiana (wo die Serie spielt) wohl nennen: den slow dance. Der „Snow Ball“ ist eine der Lieblingsszenen vieler Fans der Serie, wenngleich manche bedauern, dass die Kids stets mit gegengeschlechtlichen Partner*innen paartanzen. Aber Fans sind so vertrauensvolle wie geduldige Wesen und wissen: Das Coming-Out unserer Lieblingsfiguren wird schon noch kommen. 

In den Pausen zu den Proben zur Performance recherchierte ich im Internet über das Leben und Schaffen von Frances Ethel Gumm, besser bekannt unter ihrem Bühnennamen Judy Garland, deren Ruhm mit dem Song „Over the Rainbow“ unheilvoll oder glänzend (das ist häufig schwierig zu entscheiden) verquickt ist, den sie als Dorothy im Film „The Wizard of Oz“ in Kansas singt. Abseits ihrer Filme und der Bewunderung ihrer Fans für ihre Interpretation von „Over the Rainbow“ war dem einstmaligen Kinderstar Garland bekanntermaßen ein unglückliches Leben beschert. Anscheinend wurden Garland bereits als Teenager Aufputsch- und Schlafmittel verabreicht, um sie für lange Drehtage funktionabel zu halten und sie bekam bereits im Kindesalter von der Filmbranche vermittelt, wahlweise zu alt, zu jung, zu dünn, zu dick, zu hässlich oder zu schön für ihre jeweiligen Rollen zu sein. Das resultierte in ein von Selbstzweifeln geprägtes Selbstbild, dem sie mit dem bei Popidolen bewährten Mittel des Kreislaufs von Drogen, Abstürzen, Comebacks mit glanzvollen Auftritten sowie erneuten Abstürzen, Drogen und viel zu frühem Ableben begegnete. Kein geringer Teil der Faszination von Garlands Fans an ihrer Person und Bühnenpersona (das ist häufig schwierig zu entscheiden), ist wohl auf diese lebenslangen Mühen zurückzuführen. Mit dem von der Filmindustrie gepeinigten Leben konnten sich vor allem Garlands queere Fans verständlicherweise identifizieren, die von der Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts ähnlich geplagt wurden. Aber ist es nicht eigentlich schade, dass die als Identifikationsfiguren fungierenden Stars stets mit der Tragik privaten Unglücks bei glamourösen öffentlichen Auftreten behaftet sind? Wäre es nicht schön, wenn auch eine Karriere wie die der Popsängerin Kim Wilde zur Identifikation einladen würde, deren Wikipedia-Inhaltsverzeichnis (1980–1982: Plattenvertrag, Erfolge und Tourneen / 1983–1985: Abflauender Erfolg und Neuanfang / 1986–1989: Internationale Erfolge / 1990–1993: Nachlassende Erfolge und The Singles Collection / 1995–2000: Stilwechsel, privates Glück und Moderationen / 2001: Comeback mit Klassikern, Duetten und neuen Werken) ein exakt zwischen Club 27 und Bildungsroman austariertes Leben vorstellt? Wie schön wäre es, wenn auch die Outcasts, die Freund*innen von Dorothy, die bald ins Teenager-Alter kommenden Kinder von „Stranger Things“ sich darin wiederfänden? Wenn also all die, für die der ganze Zirkus Popkultur nicht nur schöne Ablenkung und Zierde, sondern notwendig ist (weil das langweilige graue Kansas, Indiana oder Innsbruck, in dem sie leben, so einfach nicht erträglich ist) wüssten: Es ist zwar hart mit
den Spießern, Normalos und Bullies da draußen, aber es kann gut ausgehen, auch für
uns ist Glück möglich.

Foto by Daniel JaroschLasst uns darüber doch nachdenken oder und Schleicher tanzen (das ist häufig schwierig zu unterscheiden) beim unter dem Motto „the wizard of oz - there’s no place like p.m.k“ - stehenden p.m.k.-Ball.
Oder was auch immer ihr im gegenseitigen Einverständnis sonst gern für dreckige Tänze tanzt...

*Übrigens liest sich mein letztes Vorwort zu Identitätspolitik und feministischen Minimalanforderungen nach #metoo und der daran anschließenden Debatte bereits jetzt sehr veraltet und zahm – ich werte das aus Selfcare-Gründen mal als Fortschritt
der Welt, nicht als schlechten Text von mir. Darüber, dass die Reaktion auf #metoo naturgemäß nicht „Warum erst jetzt/Nicht alle Männer einself1!!/Nicht alles auf einen Haufen etc.“ sondern „Oh scheiße, das tut mir sehr leid, was kann ich tun, damit es besser wird?“ ist, muss ich zum Glück keine Kolumne schreiben, das wissen alle selbst.

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Martin Fritz (erschienen als Vorwort im p.m.k Programmfolder 01/02_2018)