Das hier sind nur vier Geschichten von irgendwelchen anderen Leuten

Weil aus den bekannten Gründen Entertainment gerade knapp ist, schaute ich mir neulich eine Doku über das Ehepaar Beltracchi an. Die beiden hatten Millionen Euro damit verdient, hunderte von Wolfgang Beltracchi selbst gefälschte Bilder zu verkaufen, bevor sie nach Jahrzehnten überführt und verurteilt wurden. Im gesamten Film sind neben den spießigen, ignoranten und eitlen Kunstexpertin*innen und Sammler*innen die Beltracchis trotz ihrer hippiesken Schlurfigkeit die eindeutigen Sympathietragenden. Ironischerweise (weil sie eine Haftstrafe anzutreten hatten) wirken sie in ihrer vollkommenen Weigerung, die Regeln der anderen zur Kenntnis zu nehmen, denen ihr Spiel zu spielen, in ihrer kompletten Furchtlosigkeit: frei. Nur ging es ihnen nicht darum, dem Kunstmarkt seine kunst- und reflexionsferne Enge zu zeigen, sondern darum, viel Geld zu verdienen und selbst ein schönes Leben zu haben.
Das erinnerte mich an drei andere und doch ähnliche Konstellationen, die mir zuletzt untergekommen sind:

Mdrn

Ein Alpen-Wintertourismusexperte dozierte im Radio über die Alternativlosigkeit des massenhaften Skifahrens. So viele Leute wie die Beherbungsinfrastruktur in abgelegenen Alpentälern (die wegen ihrer Abgelegenheit keine andere Einkommensmöglichkeit für ihre Bevölkerung böten) benötige, um gewinnbringend zu wirtschaften und so viele Leute, wie dringend einen Erholungsurlaub brauchen um ihr Lohnarbeitsleben die restliche Zeit zu ertragen, könnten gar nicht Schneeschuhwandern, sanften Wintertourismus oder ähnliches betreiben. Die Alpen sind einfach nicht groß genug. Sie müssten also weiter zu zehntausenden auf die Pisten und in die Après-Ski-Lokale getrieben werden, auch wenn es dort selbst mit aktuellen Beschneiungstechnologien bald keinen Schnee mehr geben wird. Ein augenscheinlich in Geldnöten steckendes Reise-Instagram-Paar (so was gibt es: Leute, die davon leben, herumzureisen und von der Reiseindustrie dafür bezahlt werden, Werbung auf Instagram zu posten) wandte sich an sein Publikum, um diesem ihre gesammelten Tipps zu verkaufen, wie es ebenfalls Reise-Instagram-Paare werden könne. Bei einem normalen 9-5-Job würde doch die meiste Lebenszeit für unangenehme Tätigkeiten vergeudet, was läge also näher, als den angenehmen Erholungsurlaub zum Beruf zu machen?

Einige Kulturwissenschafter (so was gibt es: Leute werden von Staaten dafür zu bezahlt, Kulturwissenschafter*innen zu sein) diskutierten auf Twitter über Pop. So fachkundig und exakt sie die musikalischen Elemente längst kanonisierter Pop-Musik analysierten und kontextualisierten und dann mit ihren Begriffen korrelierten, so sehr berührten sie damit nichts davon, was Pop-Musik eigentlich ausmacht. Sie hätten so ebensogut über Goethe, Beethoven oder die AFD reden können.

 

Pst

Bei all diesen Leute erstaunt, wie sie es schaffen, den letzten, entscheidenden, komplett offensichtlich offen daliegenden Denkschritt einfach nicht mehr zu tun. Dass Alpentäler nicht so bewohnt werden sollten, die Menschen in den Ballungszentren ein auch ohne Kitzloch erträgliches Leben leben können sollten; dass nicht alle Instagrammer*innen werden können und die Lösung nicht sein kann, einzelnen eine Scheinflucht aus der Lohnarbeit zu ermöglichen, sondern diese als Ganzes das zu bekämpfende Übel ist; dass relevantes Wissen generieren etwas anderes ist als die immer gleichen Begriffe über die immer gleichen Themen zu gießen: Diese Leute können das natürlich gar nicht sehen können, weil es ihren eigenen Standpunkt auflöst. Und so wie diese eigentlich klugen und lieben Kunstfälscher*innen, Travelgrammer, Experten oder Theoretiker: So schauen wir selbst auch von außen aus. Mrd

Eine bekannte Art, diese eigene Beschränktheit zu erweitern ist, sich mit anderen Leuten auseinanderzusetzen, die andere Beschränkungen haben. Ich selbst habe zum Beispiel mit dem Postmodern-Talking-Kollektiv Leute gefunden, mit denen sich immer wieder auf eine Art streiten lässt, die uns ein paar Denkschritte weniger auslassen und uns ein bisschen frei von fremden Einschränkungen und Regeln fühlen lässt. Von außen sehen wir natürlich trotzdem nicht anders als alle anderen aus. Und anzusehen wird das als im Feber in der p.m.k aufgenommener Webstream sein. Wir hoffen, dass wir dabei nicht die alleroffensichtlichsten Falschheiten begehen, sondern wenigstens ein bisschen interessantere. Hoffen wir weiter, dass wir bald alle wieder interessantere Themen haben werden, dass es bald nicht mehr nur darum geht, Krankheit und Sterben zu verhindern, sondern auch wieder darum, wie das Leben eigentlich sein sollte. Und dass wir nicht vergessen, dass sogar gefühlte Freiheit wenig ist, wenn sie nicht für alle gilt.

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Martin Fritz