Der dritte Mann

Der dritte Mann oder wie unsichtbare, gut funktionierende Strukturen manchmal erst eine kleine Katastrophe brauchen um sichtbar zu werden.

Manchmal ist ein Blatt Papier so leer, dass man sich nicht im Entferntesten vorstellen kann, wie man darauf jemals eine Kolumne schreiben wird. Und manchmal ist ein Abfluss so verstopft, dass man sich nicht im Entferntesten vorstellen kann, wie das Wasser oder besser das Ab-Wasser jemals wieder abfliessen soll. Wenn beides gleichzeitig geschieht dann hat man ein Problem. Genau genommen hat man zwei Probleme, wenn man es kausal betrachtet. Ganz genau genommen aber hat man nur eines: wie bekommt man den Fluss wieder in Gang. Und vor allem: was tut man bis dahin?
Als Anfang Feber just am Tag des Air & Style Festivals, das nach Jahren erstmals wieder nach Innsbruck zurückgekehrt ist und in dessen Anschluss jede Menge Besucher auch in die p.m.k strömten war es soweit: sämtliche Klos waren gleichzeitig verstopft. Rien ne va plus: nichts geht mehr. Und das während des grössten Ansturms. Mitten in der Veranstaltung. Mitten in der Nacht. Mitten am Wochenende.
Jedenfalls war die ganze Abflusschose mit dem Air & Style Abend noch längst nicht vorbei. Als unmittelbar danach alles wieder in Ordnung schien tauchte das Problem erneut am Tag des Austrofredkonzerts wieder auf. Diesmal war ausser dem Konzert selbst die gesamte restliche Gastgeberlogistik betroffen. Überhaupt kein Wasser wollte mehr abrinnen. Das der Toiletten nicht, nicht das der Wasch- und Abwaschbecken, auch nicht das der Geschirrspül- und vor allem nicht das unserer geliebten von uns allen so hochgeschätzten normalerweise selbstproduzierenden und sich selbstreinigenden Eiswürfelmaschine. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war klar: da müssen Profis her, richtige Profis mit schwerem Gerät, Kanalexperten, die absteigen können in die Unterwelt um das Unsichtbare sichtbar zu machen.
Unter uns gesagt, mich persönlich hat das unendlich verzweigte unterirdische Kanalsystem, jener zeitgenössische Hades, in dem Unmengen an Essensresten, Fäkalien und sonstige ungeliebte Abfälle menschlicher Zivilisation auf geheimnisvolle Weise verschwinden immer schon fasziniert.
Nicht selten war die Systemik dieses unsichtbaren Netzwerks auch Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzung. Das dafür wohl berühmteste Beispiel ist der Filmklassiker -der dritte Mann- der Anfang der 50iger Jahre seinen Siegeszug von Österreich aus in die ganze Welt antreten sollte. Auf zeitgenössische Künstler übt dieses künstliche, vordergründig nicht wahrnehm- und in all seinen Facetten auch nicht gänzlich erforschbare unsichtbare System nach wie vor ungebrochene Faszination aus. Man denke dabei zum Beispiel an die Arbeit -Kanalvideo- des bekannten schweizer Künstlerduos Peter Fischli und David Weiss oder das politische Projekt -der Weg des geringsten Widerstandes- der britischen Künstlerinnengruppe Muf in Armenien. Auch Peter Koglers umfangreiches Werk kommunizierender Röhren spürt dem Labyrinth unsichtbarer Kanäle im digitalen Medienzeitalter nach. Nicht zuletzt könnte man das gesamte Kulturgenre des sogenannten Underground als unabhängige subversive Gegenkultur zum Mainstream seiner Struktur nach an den Strukturen unterirdischer Tunnel- und Kanalsysteme angelehnt sehen.
Faszination und künstlerische Faszination im Besonderen hin oder her, sobald dieses geheimnisvolle, mit Mythen aller Art und mit welcher Symbolkraft auch immer behaftete Regelsystem im wahrsten Sinn des Wortes brüchig wird und man ausgerechnet selbst davon betroffen ist, dann ist Schluss mit lustig, Schluss mit unsichtbar und geheimnisvoll. Man kann dann vielleicht noch der Aufschrift -Wir räumen auf in Innsbrucks Unterwelt- auf dem Einsatzwagen etwas abgewinnen, und ich persönlich zugegebenermassen der Tatsache, dass so etwas wie -Kanalfernsehen- wirklich existiert, aber spätestens dann, wenn dieses Kanalfernsehen einen Abwasserrohrbruch konstatiert und bis zu dessen Behebung insgesamt mindestens 8 Veranstaltungen mit 8 verschiedenen Veranstaltern betroffen sind, spätestens dann sind andere Qualitäten gefragt.
Und, und das ist das Erstaunliche an solchen kleinen Katastrophen, wenn derlei Qualitäten nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der wirklichen Wirklichkeit vorhanden sind, dann können diese, sonst ähnlich verborgen und unsichtbar wie die Eigenschaften des verborgenen und unsichtbaren Kanalssystems einmal direkt an die Oberfläche treten und endlich sichtbar werden. Ein herrlich angewandtes Beispiel für die Ambivalenz zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, welche sonst meist nur im medientheoretischen Kontext diskutiert wird. So gesehen haben Katastrophen auch manchmal ihre Vorteile.
Und so kam es, dass ausgerechnet ein Abwasserrohrbruch Facetten des Netzwerks p.m.k zur Manifestation verhalf, Facetten, die in der Hektik des Normalbetriebs meist unsichtbar und verborgen bleiben. Und das ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als mit dem Abwasserrohr auch der grösste Teil des Basiskonzepts der p.m.k, nämlich -ihren Mitgliedern gut und reibungslos funktionierende Infratsrukturen zu garantieren- zusammengebrochen ist.
Die grössten Herausforderungen bestehen manchmal darin, etwas zu bewältigen, mit dem vorher niemand gerechnet hat. Spätestens dann ist der Zeitpunkt gekommen, wo die Realität ihre Bewährungsprüfung abhält. Genau dann nämlich ist in der Tat jene Offenheit, Flexibilität, Solidarität, Toleranz und jener Gemeinschaftssinn gefordert, von denen in Organisationspapieren, Konzepten und Leitbildern gerne theoretisch die Rede ist. Natürlich auch in den Konzeptpapieren der p.m.k.
Aber Papier ist bekanntlich geduldig und meist wird erst in der Bewältigung kleinerer oder grösserer Katastrophen offenbar, wie viel der ganze geschriebene Kram in Wahrheit wert ist. (Kolumnen haben dabei gegenüber Konzepten freilich einen entscheidenden Vorteil: sie müssen nicht gelebt sondern nur gelesen werden).
Die p.m.k erwies sich einmal mehr als soziales Gefüge, oder um es mit Christoph Hinterhuber zu sagen, als Social Plasma, auf dessen Ressourcen man sich auch im Notfall verlassen kann. Und zwar sowohl auf organisatorisch struktureller als auch auf menschlicher Ebene.
Alle Veranstaltungen konnten reibungslos über die Bühne gehen, weil alle Beteiligten die Unannehmlichkeiten nicht nur in Kauf genommen sondern offen, flexibel und kompromissbereit reagiert und damit der p.m.k ihre Loyalität entgegengebracht haben. Das gilt in erster Linie für die betroffenen Veranstalter, die Artists und vor allem für deren Publikum. Trotzdem hätten wir die in Mitleidenschaft gezogenen Veranstaltungen allesamt absagen müssen, hätte es in dieser Geschichte nicht auch einen realen „dritten Mann“ gegeben: die Solidarität unserer Nachbarn, deren Toiletten unser gesamtes Publikum während des gesamten Ausnahmezustandes mitbenutzen durfte.
Ein kräftiges Dankeschön an Pizzamann, Babalon und Projekt!

Ulli Mair