“I don't even have to explain” (SOPHIE - Immaterial)

Früher gab es eine Gewissheit: Neue Musik kommt von anderswoher. Aber sie kam von diesen anderen Orten zu uns in die Provinz, in Läden wie die p.m.k. und ihre Vorgängerinnen. Das ist, während ich dies schreibe, nicht mehr im physischen Sinn der Fall, und es ist ungewiss, ob und wann sich das wieder ändern kann.

(c) Martin FritzEines ist aber leider gewiss: SOPHIE, die schottische Hyperpop-Musikerin, wird nie mehr nach Innsbruck kommen, da sie Anfang dieses Jahres bei einem tragischen Unfall gestorben ist. SOPHIEs Werk ist gleichzeitig ein sehr schmales, das aus nur – je nach Zählweise – ein bis drei unter diesem Namen veröffentlichten Studio-Alben besteht, und ein schier unüberblickbares, vielfach verzweigtes, das aus zahllosen Koooperationen, Remixes und Produktionen mit und für eine riesige Zahl unterschiedlichster anderer Artists besteht. Ihr Kollaborations-Netzwerk reicht von den diversen, teilweise obskuren Projekten aus dem Umfeld des Londoner Labels PC Music, in dem sie eine erste Art musikalische Heimat und Gleichgesinnte fand, über Indie-Pop-Musiker*innen wie Charli XCX bis hin zu Mainstreams-Stars wie Madonna. Wenn es etwas gibt, das diese extrem unterschiedlichen musikalischen Hervorbringungen SOPHIEs eint, ist es vielleicht ihr Verschmelzen einer extrem experimentellen, die Grenzen unserer Hörgewohnheiten verschiebenden Herangehensweise mit einem entwaffnend eingängigen, massentauglichen Pop-Appeal. Musik von SOPHIE bedeutet: Verstören und betören zugleich, eine hyperkomplexe Leichtigkeit, als ob das gar nichts wäre, eine Musik, die nach Zukunft klingt.

Natürlich ist es nicht mit dem Tod eines Menschen vergleichbar, aber auch anderes kommt, während ich dies schreibe, an ein Ende. So ist es den Leser*innen meiner Kolumne kein Geheimnis, dass ich die Fernsehserie „Buffy the Vampire Slayer“ mit einer Inbrunst liebe, die vielleicht am besten damit beschrieben ist, dass ich in schwierigen Situationen stets denke: „WWBD?“ und damit nicht meine „What would Britney do?“, sondern eben „What would Buffy do?“. Nun berichten derzeit immer mehr Schauspieler*innen, dass Joss Whedon, Buffys Erfinder, in seinem Verhalten am Set ihnen gegenüber eben nicht der Vorzeigefeminist war, als der er als Schöpfer der feministischen Ikone Buffy gilt, sondern ein sehr gewöhnliches egozentrisches machtbesessenes Ekelpaket. Soll ich mir davon die identitätsstiftende Freude an einer TV-Serie nehmen lassen? Kann ich sie noch weiter schauen? Sie von einem ihrer vielen Autor*innen trennen?

Ich denke, ich kann jetzt zumindest ein wenig verstehen, wie sich viele Fans der von J. K. Rowling erfundenen Zauberwelt fühlen. Rowling hat sich in letzter Zeit mehrfach durch trans-feindliche Äußerungen hervorgetan. Ihre Geschichte von einem Buben, der buchstäblich in einem Schrank leben musste, um dann zu entdecken, dass es eine andere Gesellschaft und Welt gibt, in der er ein mächtiger Zauberer ist, resonierte zuvor jedoch bei vielen jungen Menschen, die in ihrem Umfeld ebenfalls nicht als die leben können, die sie sind, und darauf hoffen müssen, ein anderes zu finden. Dass ausgerechnet die Erfinderin dieser Geschichte nun so verletzende und gefährliche Aussagen tätigt, dass sie Menschen ihr Recht zu existieren abspricht, schmerzt ungemein. Jede Wut darüber ist verständlich und gerechtfertigt.

Doch wenn ich von Buffy etwas gelernt habe, dann ist es, die verletzende Tat zu hassen, nicht die*den Täter*in. Das klingt gut, doch was heißt das schon? Für viele Harry-Potter-Fans bedeutet es, dessen Zauberwelt weiter zu lieben, sie weiterzuspinnen, und nur eben bis zu einem Umdenken Rowlings hin nichts mehr zu kaufen, woraus diese Profit schlägt, sowie dies in der bescheidenen Öffentlichkeit des jeweils eigenen Umfelds auch zu sagen. Mehr ist diese Cancel Culture, dieses in so vielen Leitartikeln besungene Menetekel, ja eigentlich nicht. (c) Martin Fritz

Es würde nun einer so facettenreichen Künstlerin wie SOPHIE nicht gerecht, sie auf ihre Transness zu reduzieren; doch ebenso sinnlos wäre es, sie zu verschweigen, prägt sie doch auch SOPHIEs Ästhetik mit. SOPHIEs Tracks fühlen sich beim Hören an, als würde aus der vorhandenen Welt eine neue Dimension herausgefaltet, in der sich dann in tausenden Verzweigungen neue Räume auftun, in denen bisher ungehörte Klänge wohnen bzw. die durch sie eröffnet werden. Diejenigen, denen die Räume, in denen sie leben müssen, nicht genug sind: Sie haben hier eine Art von Heimat gefunden, im Anderswo dieser potentiell unendlichen Möglichkeiten. Ich freue mich darauf, so etwas auch wieder in den physischen Räumen unserer Provinzstadt zu erleben, sobald das eben wieder für alle safe möglich sein wird.