Ich denke, wir sind jetzt allein
Wer kennt es nicht, diese meist so ca. drei bis fünf Songs, die sich wochenlang in der eigenen Playlist festsetzen, die beim ersten Hören meist gar nicht einmal so besonders oder so berührend wirkten und die eins trotzdem aus unklaren Gründen nicht aufhören kann auf- und abzuspielen. Mit einer rätselhaften, duldungsvollen Obsession, die sich schwierig zwischen endgültiger Verabschiedung ins Reich des Unsinn und Erleuchtung einordnen lässt (wie ergibt es Sinn, sich einen Song 37.000.000 mal hintereinander anzuhören?), begleiten, beglücken und beeinflussen diese Songs ein Stück des Lebens – und niemand weiß warum eigentlich.
Bei meinen aktuellen Begleit-Songs (ich nenne sie gedanklich gern „die Erziehungsberechtigten“) weiß ich immerhin noch, wo sie herkommen: Da ich gerade an einem Text über Meerjungfrauen arbeite, musste ich zu Recherchezwecken naturgemäß nicht nur den einschlägigen Spielfilmklassiker „Splash“ von 1984 anschauen, sondern auch den ebenfalls mit Daryl Hannah als Hauptdarstellerin ausgezeichneten Film „Summer Lovers“ (eine Art polyamouröse Rom-Com ante litteram), in dessen Soundtrack sich Tina Turners Interpretation von „Johnny and Mary“ findet. Eine eigene (und meine liebste) Wissenschaft (namens Coverology) ist es übrigens, verschiedene Coverversionen eines Songs zu untersuchen und sie in nach Qualität geordneten Listen einzutragen, was ich natürlich auch bei diesem Kleinod unternahm. Dass im ebenfalls ausschließlich zu Recherchezwecken geschauten Spielfilm „Mermaids“ nebst Winona Ryder und Christina Ricci auch Cher mitspielte, führte mich wiederum zu ihrem Cover von „Save Up All Your Tears“.
Zur Entspannung in Schreibpausen schaute ich dann, weil ein Algorithmus es mir vorschlug, die TV-Serie „Sex Education“, in der an einer gelinge gesagt zentralen Stelle (es soll ja hier niemand gespoilert werden!): Billie Oceans Klassiker „Love Really Hurts Without You“ eine Rolle spielt. Und da ich (wie wohl alle) Filme und Fernsehserien wenn nicht nach den automatischen Vorschlägen der Video-Streaming-Plattformen, dann ausschließlich wegen deren Hauptdarstellerinnen anschaue, kam ich um die TV-Serie „The Umbrella Academy“ mit Ellen Page natürlich nicht herum, das wiederum einen sehr schlauen Gebrauch macht von Tiffanys Cover von „I Think We’re Alone Now“.
So kam es jedenfalls, dass diese vier Songs zu meinen aktuellen Erziehungsberechtigten geworden sind, und was das mit einem Hirn macht – ich will es lieber gar nicht wissen. Aber wenn ich so darüber nachdenke, bin ich doch zu genau einem dieser Menschen geworden, die Pop-Musik nur aus TV-Serien und Filmen kennen. Wir kennen sie von der Videostreaming-Plattform YouTube, wo sie unter Musikvideos kommentieren: „Serie X brought me here“. Früher dachte ich, das seien Menschen, die Musik hören für Menschen, die eigentlich keine Musik mögen. Doch waren sie augenscheinlich nur mir voraus. Denn die herkömmlichen Kanäle, neue Musik zu entdecken, fallen mir gerade reihenweise aus: Seit ein Empfehlungs-Algorithmus eines Musikstreaming-Diensts tatsächlich die Frechheit besaß, mir „Wanda“ vorzuschlagen, als wäre dies nicht das exakte Gegenteil von allem, was mir bei diesem wilden Ritt auf einem Fels- und Magmaklumpen durch All namens Leben lieb und teuer ist, muss ich auf dessen Dienste leider verzichten – manchmal bin selbst ich beleidigt. Die Popmusik-Zeitschriften scheiden in Scharen dahin (die Kolumne berichtete). Radio kann ich wegen der Werbung nicht mehr hören und die guten Sendungen kommen immer viel zu spät. Wenigstens gibt es noch Freund*innen, die mir Musik empfehlen. So war ich neulich bei der neuen Staffel von „The OA“ ganz begeistert, als sie „Ponyboy“ von Sophie spielten, das ich von einer Freundin bereits kannte.
Eigentlich sollte diese Kolumne schließen mit dem daraus folgenden Aufruf zur klassischsten Variante, nämlich bei Konzerten eine unbekannte Vorband zu entdecken, deren Platte zu kaufen und sie dann rauf- und runterzuhören – genau so wie es eben seit Menschengedenken bestens funktioniert hat. Aber wie es die Zeitverknäueltheit wollte, erreichte mich just beim Schreiben die Nachricht, dass nach Weekender und Early Bird jetzt auch der Hafen schließen wird. Büros, Hotels und Anlegerwohnungen (in denen die Leute TV-Serien binge-watchen können) bringen halt mehr Geld als Konzertlocations – danke Gentrifizierung!
Doch so pessimistisch soll es nicht enden und die coolen Kids haben sicher sowieso schon was Neues, wo sie die neue Musik herkriegen. Und die p.m.k. gibt es immerhin noch und auch ich werde mich hoffentlich mal wieder hinter der Glotze hervorwagen.
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Martin Fritz