Zwei Jahre ist es her, dass wir in Innsbruck – je nach Grad unserer Ignoranz mehr oder weniger überraschend – direkt mit den Auswirkungen dieses neuartigen Virus konfrontiert wurden. Laut meiner Erinnerung war mein allererster Gedanke, als klar wurde, dass wir die Sache nicht mehr wegignorieren konnten: „Auweia, mit Sauna, Party und Urlaub in Kroatien wird das heuer nix mehr.“ Heute ist das peinlich, aber es dauerte bei mir ein wenig länger, bis der Groschen ganz gefallen war. Bis ich verstand, dass es nicht nur um ein paar kleine Unannehmlichkeiten in meinem Alltag ging, sondern dass die Sache viel mehr und größeres Leid mit sich bringen und mehrere Jahre dauern würde.
Zu den eindeutig kleineren Übeln gehört, dass das Schreiben von Kolumnen derzeit vor dem Problem steht, dass in den relevanten Bereichen schlicht nix passiert: Keine Konzerte, kein Tratsch, kein Talk of Town. Ob ich zuhause auf der Couch festgewachsen beim Schauen von Drag Race Thailand oder Holland angelangt bin, interessiert vermutlich zuerecht niemand. Auch das hat sein Gutes, denn etwas ist doch passiert: Eine Band namens Tocotronic hat ein Album namens „Nie wieder Krieg“ veröffentlicht. Das gibt mir die Gelegenheit von meiner Tocotronic-Liebe zu erzählen (in Wahrheit habe ich es eh lange ausgehalten bis es in meiner 28. Kolumne so weit ist).
Es ist natürlich 2022 ein wenig seltsam, über eine tausend Jahre alte Pop-Rockband, die nur aus Typen besteht, zu schreiben. Erwartbar wäre hier eher von der Vorfreude auf die neuen Alben von z.B. Kim Petras, Charli XCX oder ANTHEA zu lesen. Es ist mir bewusst, dass Tocotronic-Fantum inzwischen uncool ist. Darauf Tocotronic schlecht zu finden, können sich viele einigen. Tocotronic schaffen es für sehr viele exakt richtig daneben zu sein, sie sind den einen zu mainstreamig, den anderen zu verschroben, zu prätentiös, zu schlicht, zu kompliziert.
All das sind Gründe, warum ich die Band liebe, seit mir Mitte der 1990er als Teenager ihre ersten Alben zugefallen sind. Bei denen ging es, wie oft bei guter Pop-Musik, erfreulich wenig um Musik im engeren Sinn. Auffällig waren zunächst die Texte. Diese gaben mir eine dringend nötige Orientierung im Dagegensein (ohne zu wissen wogegen eigentlich) und darin, was cool, uncool und wie sich dabei zu fühlen war. Es ist heute kaum zu glauben, doch wir hatten und wussten damals in der Provinz (das Internet war noch ein nutzloses Baby) buchstäblich nichts! Jede Information darüber, was die Welt an Besserem zu bieten hatte, als der Schmarren, der mich umgab, war recht. So lernte ich aus Tocotronic-Texten: Wie großartig die Band Team Dresch ist (peinlich, das nicht vorher schon zu wissen), Wittgenstein und „À la recherche du temps perdu“-Lesen JA, Cineast sein: NEIN. Auch die Frisuren und Uniform (Cordhose und Trainingjacke) übernahm ich im Rahmen der Möglichkeiten mit religiösen Eifer (die Info, dass das auf eine heute kaum zu verstehende Art ironisch gemeint war, erreichte die Provinz nur unvollständig). Was mich zudem von Anfang an besonders ansprach: Wie unmännlich Tocotronic waren und sind. Endlich mal Punkrocker, die keine lächerlichen männlichen Mann-Männer darstellen! Ihre zarte, offensive Unsouveränität drückte bei genau den richtigen Leuten genau die richtigen Knöpfe und tut es bis heute.
Von da an war es eine lange gemeinsame Reise, auf der Tocotronic es immer wieder schafften, mich zu verstören. Das Album „K.O.O.K.“ z.B. anfangs: Ich war nicht begeistert, ich war verwirrt. Was die Raumschiffe am Cover, die neue Komplexität, die vielen Instrumente, die langen Tracks sollten – das war nicht mehr meine Band! Fans, diese spießigen Geschöpfe, wünschen sich, dass alles immer gleich bleibt. Doch treu sind sie auch, und so hörte ich das Album immer wieder, bis ich die Weiterentwicklung der Band verstand. Seither waren sie mit jedem neuen Album immer schon da, wo ich bald darauf erkannte, ebenfalls hingewollt zu haben. Es folgten noch mehrere zwischen affektierten Manierismen und überforderender Schlichtheit changierende Volten, in denen sich der Tocotronic-Kosmos stets erweiterte für alle, die daran wachsend sich darauf einlassen wollten und konnten.
Tocotronic-Fantum heißt auch, stets einen Vorrat an zitierfähigen Parolen mit sich herumzutragen. „Aber hier leben, nein danke“ – das denke ich z.B. ca. dreimal am Tag angesichts unserer Provinzstadt. Zum Glück lebe ich nicht nur da, sondern auch in der Welt der Kunst und des Internet. Und da habe ich es ja auch so einigermaßen ausgehalten, bis jetzt dann hier – AFK, IRL und p.m.k – auch wieder alles von vorne losgeht.
- Martin Fritz