Ich kann das Wort „Bankenkrise“ nicht mehr hören. Nur, weil ein paar wenige Zocker süchtig danach sind, Casino zu spielen und dafür zufällig an den richtigen Stellen sitzen, gehen ganze Staaten pleite. Die Welt scheint ins Chaos gestürzt, und die Medien verbreiten tag täglich nichts als Angst und Schrecken. Am meisten ärgert mich der Umstand, dass scheinbar nichts und niemand dagegen etwas zu tun vermag, sprich in der Lage ist, dem ganzen Wahnsinn, endlich ein Ende zu setzen. Spätestens seit dem mir mein Vater letztes Jahr zu Weihnachten das Buch „Im freien Fall“ von Joseph Stiglitz geschenkt hat, weiss ich endgültig, dass man das ganze längst hätte kommen sehen können und damit längst etwas dagegen hätte tun können, mehr noch: „Das einzig Überraschende an der Wirtschaftskrise von 2008 war die Tatsache, dass sie für so viele überraschend kam.“ Zu viele Indikatoren haben darauf hingewiesen, dass es so nicht mehr lange weitergehen kann. „Ein laxer rechtlicher Ordnungsrahmen ohne billiges Geld hätte vielleicht nicht zu einer Spekulationsblase geführt. Wichtiger aber ist, dass billiges Geld zusammen mit einem gut funktionierenden oder gut regulierten Bankensystem zu einem Boom hätte führen können, wie es zu anderen Zeiten und an anderen Orten der Fall war“, wie Stiglitz dazu ausführt. Und immerhin ist Joseph Stiglitz nicht irgendwer, war er doch in den Neunzigern lange Jahre Vorsitzender im Rat der Wirtschaftsberater von Bill Clinton bevor er 1997 als Chefökonom in die Weltbank wechselte. 2001 bekam er für seine Arbeiten über das Verhältnis von Information und Märkten den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Heute berät er Nicolas Sarkozy und kritisiert Barack Obamas Rettungspläne zur Behebung der Banken- und Finanzkrise. Soviel zum Einfluss von Experten auf die Politik. Man speist sie mit einem Nobelpreis ab und macht weiter wie bisher. Jean Cloude Juncker, der Vorsitzende der Eurozone war da unlängst wenigstens einmal ehrlich. Er räumte in einem, auch in Europa vielbeachteten Interview mit Armin Wolf für die ZIB 2 ein, dass die EU in der Frage der Banken und jetzt auch in Sachen Griechenland Fehler gemacht habe, und das nicht nur, weil die Eurozone wegen der vielen Divergenzen und Differenzen innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten grundsätzlich kein optimales Mittel sei, den Währungsraum politisch zu führen. Auf die Frage, was denn der grösste Fehler gewesen sei, den die EU in den letzten drei Jahren gemacht hat: „Wir waren einfach nicht schnell genug. Die Art und Weise wie wir reagieren ist nicht reaktiv. Die Finanzmärkte sind schnell, wir sind langsam. Demokratien bewegen sich langsamer, weil sie auf Legitimität bedacht sein müssen. Die Finanzmäkte haben diese Sorge nicht und können deshalb schneller laufen. Wir müssen schneller laufen lernen.“
Lange bevor die Bankenkrise in der EU Spitze derzeit für grosse Nervosität sorgt, und das wirtschaftliche Schicksal Griechenlands höchst ungewiss ist, traf es schon einmal ein Land in unseren Breiten. Bereits im Oktober 2008 schlitterte Island in den Staatsbankrott. Seither ist es still geworden um das Land der heissen Quellen und Geysire, der Trollen und Elfen, dem Land der Sagen und Mythen. Wäre da nicht zwischenzeitlich ein Vulkanausbruch gewesen, dessen Aschenwolke für ein paar Tage nahezu den gesamten internationalen Flugverkehr lahm legte. Von seltsamen Szenarien wurde berichtet. Businessmanager sollen auf diversen Flughäfen die Contenance verloren und sich um die letzten Tickets geprügelt haben, ähnliches habe sich auf Bahnhöfen abgespielt. Schlangen von Menschen in dunklen, teuren Anzügen und Kostümen, allesamt mit den selben Köfferchen in der Hand, seien an Autobahnauffahrten zu den Metropolen gestanden um per Handzeichen Autos aufzuhalten. Ob da nicht die Rachehelden aus den uralten isländischen Sagen im Spiel waren, um der Weltwirtschaft einen kleinen Streich zu spielen?
Heuer war Island zur Frankfurter Buchmesse als Gastland eingeladen und damit rückte die vergessene Insel im Nordmeer wieder mehr in den öffentlichen, zumindest in den literarischen Mittelpunkt. Wer mit Kunst zu tun hat, bekam es früher oder später schon vorher mit Island zu tun. Und das ist kein Wunder, ist Island doch das Land mit der höchsten Dichte an Künstlern aus aller Genres im Verhältnis zur Einwohnerzahl. Einige davon, wie zum Beispiel Björk oder Sigur Ros haben es zu Weltruhm gebracht. Island ist auch jenes Land, in dem, ebenfalls im Verhältnis zur Einwohnerzahl am meisten Bücher gekauft werden. Beim letzten Donaufestival gab es einen Islandschwerpunkt und auch in der p.m.k immer wieder Islandic Nights. Ich persönlich habe schon seit längerem Facebookfreunde aus dem grossen Spektrum isländischer Künstler und Künstlerinnen, mit denen ich nicht nur jede Menge Spass habe sondern deren Beiträge mich von Anfang an wegen ihrer Qualität aber auch ihrer Schrägheit fasziniert haben, wenngleich ich zugeben muss, dass ich aufgrund der eigenwilligen isländischen Sprache nur den Bruchteil dessen verstehe, was da wirklich genau abgeht, wenn die untereinander so richtig in Fahrt kommen.
Internationale Bankenkrisen, drohende Staatsbankrotte, Rettungsschirme, grosses künstlerisches Potential und die Einladung zur Frankfurter Buchmesse: Gründe genug, einmal näher hinzuschauen, wie die Isländer mit ihrer Krise umgehen. Island gehörte einst zu den reichsten Ländern der Welt. Es ist also leicht nachzuvollziehen, dass die Bevölkerung nach dem Staatsbankrott, den sie einigen wenigen Bankern zu verdanken hatte, und unter dem sie bis heute leidet, schlichtweg die Schnauze voll hat von Politik und Wirtschaft. Radiosendungen und Commedyshows im Fernsehn, die sich über die Krise lustig machten, boomten, besonders die TV-Show des Punks und bekennenden Anarchisten Jón Gunnar Kristinsson, der sich in seiner Show kurz Jón Gnarr nannte und über die Politik mit ihrem neoliberalistischen Wahn am meisten herzog. Er wurde so etwas wie die Identifikationsfigur all jener, die, nachdem sie ihr Geld oder ihren Arbeitsplatz verloren hatten, mehr schlecht als recht ihr Leben meistern mussten. Als 2010 in Reykjavík Bürgermeisterwahlen anstanden war offenbar das Mass voll. In der vorangegangen Legislaturperiode gab es insgesamt vier Bürgermeister, teilweise verstrickt mit korrupten Banken, immer waren innerparteiliche Streitereien Grund für den Wechsel.
Vor diesem Hintergrund schlossen sich Künstler und Künstlerinnen Reykjavíks zusammen und gründeten zum Spass eine Partei namens Besti Flokkurinn, was übersetzt soviel heisst wie „Beste Partei“ um ihrem Unmut über die politischen Zustände Ausdruck zu verleihen. Kurzerhand machten sie Jón Gnarr zu ihrem Spitzenkandidaten und mischten sich mittels genialer künstlerischer Konzeption in den Wahlkampf ein. Namhafte Prominenz aus Kunst und Unterhaltung, darunter auch Björk unterstützten das Kunstprojekt. Die Fotoshootings für die Wahlplakate muteten eher an wie Shootings für die Promotion des neuesten Musik Videos einer schrägen Popband. Demgemäss trat die gesamte Partei in ihrem Wahlclip auch tatsächlich kampagnengerecht als Coverband zu Tina Turners Welthit „Simply the Best“ auf. Mit Slogans und Wahlversprechen wie etwa das Stadtparlament bis 2020 von Drogen zu befreien, Eisbären endlich wieder in den Zoo zu sperren, kostenlose Handtücher für alle heissen Quellen und ähnlichem Nonsens auf entsprechend gestylten Wahlplakaten und Postkarteneditionen, sorgte die Besti Flokkurinn für Heiterkeit während des ansonsten erbittert geführten Wahlkampfes. Auch in den Strassen Reykjavíks wurde Wahlkampf performed. Eine bunte fröhliche Künstlerschar, ausgestattet mit Unmengen rosaroten Luftballons und überlebensgrossen Eisbären, schüttelte Hände und küsste Kleinkinder in Kinderwägen. Jón Gnarr wurde nicht müde „offene Korruption“ zu versprechen und wenn er erst einmal zum Bürgermeister gewählt sein würde, nur sich und seine Partei zu bereichern. Den Leuten gefiel es, und die anderen Parteien wussten nicht so recht, damit umzugehen. Es wurden sogar eigens Kommitees gegründet, die Kampagnen ausarbeiten sollten, welche Strategien gegen Besti Flokkurinn wirksam seien. Im letzten TV-Duell vor der Wahl mahnte die Gegenkandidatin, die damals amtierende Bürgermeisterin, die Bevölkerung erbittert, die Reykjavíker sollten es sich gut überlegen, ob sie in Zukunft von einer verantwortungsvollen Partei oder einer Horde von Künstlern regiert werden wolle. Jón Gnarr konterte: „Wie redest Du eigentlich über uns? Es sind die Künstler, die Island in der Welt bekannt gemacht haben.“ Und dann trat das ein, mit dem niemand und am allerwenigsten die Scherzpartei selbst, die ursprünglich als Kunstprojekt gedacht war, gerechnet hatte. Besti Flokkurinn gewann überlegen die Wahl und Jón Gnarr wurde Bürgermeister von Reykjavík. Der Schock sass daraufhin in Island tief. Dass er tatsächlich die Hauptstadt regieren kann, daran hatte er selbst keinen Zweifel. Auf die Frage, ob er sich dieses Amt überhaupt zutraue, antwortete Jón Gnarr lakonisch: „Die tun hier auf der Insel alle, als ginge es um Gott weiß was. Meine Güte, Reykjavík hat 100 000 Einwohner. Und ich habe Experten bei mir, Ökonomen, Anwälte, Forscher. Die können soviel wie die Politiker. Ich werde ein guter Bürgermeister sein“.
In der Zwischenzeit ist Jón Gnarr mehr als ein Jahr im Amt und sorgt dort mit der Art seines Agierens nach wie vor für Verwirrung. Ansonsten geht es ihm wie jedem anderen Politiker auf der Welt auch. Er musste unpopläre aber notwendige Massnahmen setzen und damit viel von seiner einstigen Popularität einbüssen. Manche seiner Wähler sind enttäuscht, weil er seine Wahlversprechen nicht eingelöst hat. Nach wie vor gibt es weder Eisbären im Zoo von Reykjavík noch kostenlose Handtücher für die heissen Quellen. Und bei all jenen, die sich beschweren, dass er sie nicht aus der Wirtschaftskrise herausgeholt hat, entschuldigt er sich so: „Es tut mir leid, dass es Menschen gibt, die geglaubt haben, ich sei ein Überheld, der alles besser kann als jemals jemand zuvor. Hierbei handelt es sich um ein Missverständnis.“
Ansonsten beklagt er sich, wie anstrengend das Politikerdasein sei, Innsider behaupten, dass er nicht die gesamte Legislaturperiode durchhalten wolle. Das Konzept von Besti Flokkurinn hat er im Stadtparlament jedenfalls konsequent durchgehalten. Die Leute mögen ihn inzwischen längst nicht mehr so, wie sie ihn einst als Künstler mochten, aber das ist ihm egal. Viele sagen, dass es gut sei für Reykjavík, einen Bürgermeister zu haben, der sich nicht darum kümmert, ob er wiedergewählt wird, zumindest in Zeiten wie diesen. Es sei gut, jemanden zu haben, der sich darauf konzentriert, Dinge zu einem Besseren zu wenden und sich nicht um Beliebtheit kümmert. Konservative Politiker und Banker wollten in ihrer Hybris aus dem früheren Fischerdorf Reykjavík einen internationalen Finanzplatz machen. Jón Gnarr dagegen setzt auf Identitätsbildung durch Kultur. Die neue Konzerthalle „Harpa“ wurde dank städtischer Gelder fertiggestellt. Zudem hat Gnarr sich für Reykjavik als Unesco Literaturstadt engagiert, und vor kurzer Zeit wurde der Stadt dieser Titel auch verliehen. „Literatur war schon immer ein wesentlicher Teil unserer Identität“, sagt Gnarr. „Es ist eine Notwendigkeit in diesem Land, dass uns diese Kultur einen Ort für unsere Fantasie bietet, gerade wenn die Bedingungen da draußen hart sind. Um überleben zu können, braucht man einen glücklichen Ort in sich selbst.“ Jón Gnarr macht Politik, um Glücksorte zu erschaffen.
Das Träumen und Dichten haben sich die Isländer trotz rauer Realität und unberechenbarer Natur jedenfalls nie nehmen lassen, egal ob die Erde aufbricht oder die Wirtschaft einbricht. „Dichten ist die Welt hinter der Welt. Banken können leicht zusammenbrechen. Dichtung nicht, die ist immer da“, so der isländische Schrifsteller Jón Kalman Stefánsson anlässlich der Präsentation seines neuen, viel beachteten Buches „Der Schmerz der Engel“ in Frankfurt. Ich würde das gerne auf alle Sparten von Kunst ausweiten: Kunst ist die Welt hinter der Welt. Banken können leicht zusammenbrechen. Kunst nicht, die ist immer da.
Ulli Mair