Misshandelter Bub wirbt für Rockkonzert

Die Aufregung um das Konzertplakat der amerikanischen Band MADE OUT OF BABIES finde ich insofern interessant, liesse sich anhand dieses Anlassfalles doch die gesamte Palette an Problemfeldern diskutieren, die unsere Mediengesellschaft aufwirft. Warum sehen alle, inklusive mir selbst, von vornherein in der Darstellung einen misshandelten und nicht etwa einen verunfallten oder sonst wie verletzten kleinen Jungen? Diese Frage gäbe genug Stoff für einen spannenden medien- und wahrnehmungstheoretischen Diskurs.
Inwieweit beeinflusst eine grossteils medial konstruierte Wirklichkeit unsere eigene Wahrnehmung und damit bereits längst unsere eigene Realität? Eine Wirklichkeit gesprägt von medialen Bildern, in der Gewalt, Verbrechen, Zerstörung und Krieg sich allemal besser für eine Schlagzeile, eine Story, einen Kinofilm oder ein Videospiel eignen und damit besser verkaufen lassen als alles andere? Eine Wirklichkeit wo Werte wie Zuneigung, Zärtlichkeit, Geborgenheit oder Nähe bestenfalls im Rahmen vorweihnachtlicher Spendenaufrufe abgehandelt werden?
Als Kulturvermittlerin möchte ich aber auf den Vorwurf eingehen, dieses Plakat würde für Werbezwecke missbäuchlich verwendet, indem es durch die Darstellung eines Gewaltopfers Aufmerksamkeit für ein "Rock(?)"konzert erregen wolle.
Wäre diese Darstellung auf einem Plakat für eine Ausstellung aus dem Bereich bildender Kunst würde das Sujet wahrscheinlich gänzlich anders rezipiert. In der bildenden Kunst hat die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Körper und die Auslotung der Grenzen seiner Verletzbarkeit als Methapher für die individuelle Verletzung durch gesellschaftliche Zustände lange Tradition. Das reicht von künstlerischen Darstellungen der Kreuzigung Jesu über das gesamte Feld der Performancekunst bis hin zu zum Aktionismus und betrifft letztendlich die gesamte Kunstgeschichte. Als prägnanteste Beispiele jüngster Vergangenheit sollen hier die Arbeiten der Wiener Aktionisten von Rudolf Schwarzkogler und Günter Brus oder die frühen Videoarbeiten und Aktionen von Valie Export genügen.
Wäre angesprochenes Plakat also das Plakat für eine zeitgenössische Ausstellung in einer Galerie oder einem Museum würde wahrscheinlich niemand auf die Idee kommen von miss-bräuchlicher Verwendung einer künstlerischen Arbeit zu Werbezwecken für eine Ausstellung zu sprechen.
Offenbar wird aber von der öffentlichen Meinung einer "Rock(?)"band von vornherein Gewaltverherrlichung, jedenfalls aber kein differenzierter und schon gar kein engagierter bewusster Umgang mit gesellschaftspolitischen Themen unterstellt. Und einem Kulturveranstalter offenbar von vornherein in erster Linie Gewinnabsicht.
Hier möchte ich entschieden widersprechen. Es gibt kaum ein öffentliches Terrain, in dem so intensiv und differenziert gesellschaftliche Problemszenarien und Misstände aufgedeckt, theoretisch bearbeitet und mit den unterschiedlichsten zeitgenössischen Stilmitteln dargestellt und bekämpft werden wie im sogenannten subkulturellen Kontext. Diese ernsthafte Auseinandersetzung findet in Musiktexten von Bands verschiedenster Stilrichtungen ebenso ihren Niederschlag wie in medien-künstlerischen Arbeiten, Informations- und Diskussionsveranstaltungen aber auch in konkreten sozialen oder gesellschaftspolitischen Aktionen und damit auch in Plakaten, die auf derartige Veranstaltungen oder Ereignisse aufmerksam machen. Und dass mit einer kritischen Bewusstseinsbildung kein Geld zu verdienen ist, liegt ohnehin auf der Hand. Übrigens:
Das Plakat ist Plattencover des neuesten Albums und zugleich Tourplakat der amerikanischen Band MADE OUT OF BABIES, die sich in ihren kritischen Liedtexten nicht nur gesellschaftspolitischen Themen wie Gewalt widmet sondern sich auch mit Wahrnehmung beschäftigt. Das Foto ist weder eine digitale und damit künstlich hergestellte Fiktion noch aus dem Internet herunter geladen, sondern stammt aus dem Kinderalbum eines der Bandmitglieder, der als kleiner Junge einen Autounfall hatte...

Ulli Mair

Leserbrief zum Artikel in der Tiroler Tageszeitung
vom Mittwoch den 29. November 2006