Zu Beginn des Frühsommers steigt stets meine Vorfreude auf eine Veranstaltung, und ich rede hier nicht vom Haller Radieschenfest, so sehr mir auch Produktköniginnen wie eben Radieschenprinzessinnen auf eine rätselhafte Weise inzwischen ans Herz gewachsen sind. Auch meine Liebe zum seit 62 Jahren ausgetragenen Eurovision Song Contest (kurz ESC) verstehen nicht alle, und vieles am ESC ist ja auch wirklich unverständlich.
Was der Songcontest vorgibt zu sein – ein zwischen Nationalstaaten mittels Songs ausgetragener Wettbewerb nämlich – ist natürlich so sehr ein Unsinn, wie er genau das gar nicht ist. Die Teilnehmenden am Bewerb sind von Runkfunkanstalten beauftragte Künstler*innen, keine Nationen. Um den Wettbewerb geht es – wie bei vielem, was so tut – nicht eigentlich. Sehen wir uns den ESC an, so erscheint er zunächst als eine ungeheure Ansammlung von Zeichen: blinkende LED-Lichter auf Kostümen und Bühnenelementen, wahllos zusammengewürfelte Songstrukturen und Sounds, Folk-Klänge und Pianos aus transparentem Acrylglas vor der Feuershow im Trockeneisnebel mit Botschaft. Es sind dies kaputte, dekontextualisierte Zeichen, die nichts mehr sagen. Es ist nur mehr die Oberfläche, das Bedeutende, das Trickkleid (die Semiotikerin würde sagen: ein leerer Signifikant) übrig geblieben – und dahinter ist eben nichts, keine Tiefe, kein Bedeutetes, kein Sinn. Der Songcontest ist völlig sinnlos, seine Bedeutung verrutscht stets wie der Blick auf die Oberfläche des durchsichtigen Acrylflügels – und dann kommt schon der nächste Beitrag einer osteuropäischen Sendeanstalt. Es ist fruchtbarster Abfall.
Denn genau darum geht es. Genau das genießen ESC-Fans, die – einmal von der Zurichtung suspendiert, stets eine fixe Bedeutung hinter dem Firlefanz verstehen zu müssen – einen eigenen Umgang mit Bedeutung, eine eigene Gesellschaft mit eigener Moral bilden. So erwachsen dem enzyklopädischen ESC-Nerdwissen Mythen wie Deutschlands skandinavische Miniära (Wencke Myhre, Siw Malmkvist, Gitte Hænning), ergibt die Koexistenz von France Gall, t.A.T.u., Bonnie Tyler, Lordi, Alice Visconti und Franco Battiato bei einer Veranstaltungsreihe plötzlich Sinn (nur halt: anderen als den handelsüblichen). Denn auch wenn es viele sind, so sind es doch in der ESC-Geschichte nur endlich viele Elemente, die sich in ein System aus Artists, Ländern, Jahreszahlen, Austragungsorten, Startnummern und Platzierungen einpassen lassen, in dem Verbindungs- und Assoziationslinien irgendwie immer den Eindruck von Verständnis vermitteln, ohne dass es etwas zu verstehen gibt.
In einer traurig kleinen Welt lebt, wer dies verwechselt mit einem von härteren wie sanfteren Zeichen-Spielarten nichts wissenden „So schlecht, dass es schon wieder gut ist“-Zugang. Ein anderes häufiges Missverständnis ist jenes, es würde beim Songcontest um Pop-Musik gehen, die zwar ihrerseits aus meist simplen Zeichen ihre Komplexität generiert, das aber wohl anders als ESC-Musik.
In den oxymoronisch manchmal „ avantgardistisch“ genannten Gefilden der Pop-Musik gab und gibt es Gestalten wie den heuer beim Heart-of-Noise-Festival auftretenden Gerald Donald, der sich zwar (wie ein Songcontest-Artist!) stets hinter seinen unzähligen (leeren?) Pseudonymen (Drexciya, Arpanet, Dopplereffekt, Der Zyklus, Rudolf Klorzeiger etc.) versteckt, darunter aber sehr abstrakte, nicht-diskursive (es gibt kaum Vocals) elektronische Musik veröffentlicht, die den Nichteingeweiten als Nicht-Zeichen erscheinen muss: Außer den kryptisch-knappen Angaben auf der Plattenhülle gibt es auch hier nichts zu verstehen. Es tut sich an der Oberfläche sehr wenig (keine Lichtshow, kein Autotune, keine Umhängekeyboards wie beim ESC), es gibt kaum Bedeutendes, nur repetitive Klänge. Und genau damit wird aber für die, die die feinsten Klang-Unterschiede und Wiederholungen und den Kontext kennen, in dem diese bedeutsam werden, sehr präzise signifiziert: Drexciya z.B. entwarf so eine komplette afro-futuristisch-subaquatische Mythologie – mit Schallplatten. Donald liefert also Sinn ohne Signifkanten, Bedeutung ohne etwas, das sie bedeutet.
Ist nun Donalds Detroit Techno also die Dekonstruktion der Dekonstruktion, die der ESC ist? Ist das „ Heart of Noise“ das Komplementärfestival zum Songcontest? Brauchen herzhaft denkende und reflektiert fühlende Semiotiker*innen beides zum glücklich sein? Passen also ESC und H.o.N. zusammen wie Kylie Minogue und Lotte Tobisch? Die trafen einander übrigens neulich bei Markus Lanz. Und nicht einmal der konnte alles zunichte machen. Nur ist das eine andere Geschichte, wie auch die der Radieschenprinzessin.
---
Martin Fritz (erschienen als Vorwort im p.m.k Programmfolder 05/06_2018)