Neulich scrollte ich, wie wir schlecht für unsere geistige Gesundheit Sorgenden es im Spätkapitalismus zu tun pflegen, durch meine Twitter-Timeline. Zwischen all den Meinungen zur Pandemiebekämpfung an derem bisherigen Höhepunkt, zur Klimakatastrophe angesichts des alarmierenden letzten Berichts des Weltklimarats, zu den aktuellen Kampagnen von transfeindlichen Hassgruppen sowie zum Angriffskrieg in der Ukraine erreichte mich folgender Tweet von @h0mmelette: „ADORNO HAD A FURSONA“. Ergänzt wurde der Tweet um einen Ausschnitts aus einem wissenschaftlichen Artikel mit dem Titel: „Dialectic of Regression“, in dem die Freundschaft zwischen dem Philosophen, Soziologen und Musiker Theodor Wiesengrund Adorno und dem Schauspieler, Filmregisseur und Drehbuchschreiber Fritz Lang im Zentrum steht. Im geposteten Ausschnitt ist der (in Briefen zwischen den beiden Freunden dokumentierte) Funfact zu lesen, dass Lang einmal Adorno ein Spielzeug-Nilpferd schenkte, dem dieser den Namen „Archibald Stumpfnase Kant von Bauchschleifer Nilpferdkönig“ gab und es als perfekte Kopie seines inneren Selbst bezeichnete.
Es ist unter Adorno-Fans bekannt (die Kolumne berichtete), dass dieser neben seiner seriösen Autoren-Persona privat dem Albernen sehr affin war, aber dieser Nilpferd-Name und Adornos Selbstidentifikation als Nilpferd (darauf spielt der Tweet an: „Fursona“ nennen so genannte Furries, also Menschen, die gerne spielen, ein nicht-menschliches Tier zu sein, die von ihnen verkörperte Tierfigur) war mir neu. Es erfreut mich wie viele ungemein, dass jemand gleichzeitig schlecht gelaunte Philosophie-Wälzer wie die „Dialektik der Aufklärung“ und quatschige Nilpferd-Namen verantwortet. Und das auch wenn ich weiß, dass ihm beides nur möglich war, weil jede Menge unsichtbar gemachter Frauen ihm Zeit seines Lebens Care-, Reproduktions- und Abtipp-Arbeiten abnahmen.
Über solche Dinge dachte ich also nach, während ich dann zum ersten Mal seit langer Zeit im Rahmen des DIAMETRALE-Festivals zuerst im Kino-Saal und dann in der p.m.k bei einem Konzert wiederfand. Auf der Bühne spielte Pamelia Stickney das Theremin. Dieses schöne kontaktlos zu spielende Instrument wird oft von Frauen gespielt, vermutlich weil Clara Rockmore, die wohl berühmteste Thereministin, immer noch als Vorbild wirkt. Und ich hatte in der langen konzertlosen Zeit tatsächlich vergessen, was unter anderem solche Veranstaltungen ausmacht: Es kommen viele verschiedene Leute in einem Raum zusammen und niemand weiß vorher schon genau, was passieren wird. Von Katastrophe und Streit bis zu kollektiver Magie ist alles möglich.
Das ist ganz ähnlich, dachte ich dann, als eine schön anzusehende Bubenband die Bühne betrat, wie an den interessanten Stellen des WWW, der Wikipedia zum Beispiel. Dort hatte ich neulich die schöne Liste bekannter Citogenesis-Fälle gelesen. Citogenesis ist, wenn jemand einen ausgedachten, nicht belegten Unsinn in die Wikipedia schreibt, das dann jemand z.B. für einen Zeitungsartikel aus der Wikipedia abschreibt ohne diesen Sachverhalt zu prüfen und als dritter Schritt der so entstandene Text in Wikipedia zurückeingebaut wird als Beleg für den erfundenen Quatsch, der nach diesem Kreislauf zum belegten Fakt geworden ist. Die Liste solcher Vorfälle reicht von schamloser Selbstpromotion, harmloser Ignoranz und Fahrlässigkeit über eigentlich sogar herzige oder schöne versteckte Netz-Konzeptkunst bis hin zu mutwilliger und gefährlicher Fehlinformation.
Aber was wäre, dachte ich dann, als nach den Bands DJ*anes ihre Tätigkeit aufnahmen, wenn jemand als geheimes Netz-Kunstwerk einen Meta-Citogenesis-Fall kreieren wollte, also einen Citogenesis-Fall in diese Liste hineineditieren, den es gar nicht wirklich gibt? Eine Person, die das machen wollte, müsste zunächst einen zwar wahren, aber ausgedacht klingenden Funfact finden (wie z.B. Adornos Nilpferd-Namen) und diesen in Adornos Wikipedia-Artikel hineinschreiben. Der nächste Schritt wäre, in einem Nicht-Wikipedia-Text, also zum Beispiel im Titel (weiter liest eh niemand) einer Programmheft-Kolumne einer angesehenen Kulturinstitution (wie z.B. der p.m.k) diesen Funfact zu erwähnen, als ob er aus der Wikipedia abgeschrieben wäre und dies als Beleg im Adorno-Artikel anzuführen. Und schon könnte diese Person diesen Adornogate in die Liste der Citogenesis-Fälle hineinschreiben. Eine nur oberflächliche Recherche müsste glauben, hier sei wirklich ein Fake zum Fakt geworden anstatt umgekehrt. Aber natürlich würde niemand so etwas tun – das wäre doch ebenso unwahrscheinlich wie dass der Autor der „Minima Moralia“ privat ein Macho und ein Nilpferdkönig war.
- Martin Fritz