Nur drinnen ist wie draußen

...In der guter Jahreszeit zieht es die Menschen naturgemäß nach draußen, dann stehen sie herum, trinken das Trendgetränk des Sommers und sehen sehr gut dabei aus. Regnet es aber, oder sind die schönen Menschen mit Bürolohnarbeit geschlagen, oder – schlimmer noch – sind sie am prekären sich irgendwie Durchgurken („Neue Selbständige“ wie es Versicherungen nennen, oder sie „spielen Büro, decken sich mit Arbeit ein, die’s gar nicht gibt“, wie es die großartige Christiane Rösinger mit ihren Band Britta viel treffender ausdrückte), dann hängen sie naturgemäß (auch wenn’s uncool ist) auf Facebook rum. Beliebt ist dort wieder einmal mehr das Spielchen, die Cover von zehn älteren, biographisch wichtigen Schallplatten zu posten, die nachwievor regelmäßig den Weg auf den Plattenteller finden und eine weitere Person zu nominieren, das Gleiche zu tun. Das Erfolgsmodell des Spiels leuchtet ein (so überrascht es nicht, dass inzwischen alle bereits mehrmals nominiert worden sein dürften), denn es macht ebenso Spaß, diese Listen zu kompilieren, wie sie zu lesen.

Bei diesen Facebook-Listen verblüfft mich nur immer die willkürliche Beschränkung von Umfang und Auswahlraum der Listen: Warum bloß nur 10? Warum nicht 1.000 oder 5.000? Und warum stehen alle je veröffentlichten Platten zur Auswahl und nicht eine sinnvolle Einschränkung der Grundmenge wie: nur Konzept-Doppelalben. Im echten Leben fragt ja wohl auch niemand beim Kennenlernen: „Was sind deine zehn liebsten Tiere?“ Sondern eher: „Was sind deine Top Ten Saurier der Trias?“ Warum ist auf Facebook also nicht eher das Spiel erfolgreich: „Poste deine persönlichen Top 40 Interpretationen vom Song Angel of the Morning“?

...Ich habe heimlich oft den Gedanken, selber die Regeln zu verschärfen und z.B. die 666 besten Lovesongs aller Zeiten zu posten. Überhaupt ist es eines meiner länger gehegten Forschungsvorhaben, die ultimative Lovesong-Typologie zu entwerfen. Dachte ich früher daran, Lovesongs auf der ersten Gliederungsebene nach dem normalen Zeitverlauf (in Liebe Fallen – Anwerben – Anfangsbegeisterung – Troubles/Breakup – Rückblick), auf der zweiten nach Erfolg/Nichterfolg und auf der dritten nach Einstellung der Interpret*innen zum Geschehen (happy/cool/sad) in fixe Kategorien zu ordnen, schwebt mir aktuell ein Modell vor, in dem Lovesongs in einem mehrdimensionalen Raum auf den Achsen Zeit, Queerness, Erfolg, Interpret*innen-Einstellung und Qualität des Songs verortet werden und beim Nullpunkt der prototypische Lovesong Angel of the Morning liegt.

Die allerliebsten (Nicht nur Love-)Songs sind mir übrigens jene, die gar nicht wirklich, sondern in fiktiven Welten existieren. Müsste ich nun meine aktuelle Top 5 posten, es käme dabei wohl heraus:

5. California Dreams von den Barbarians (das Album, das in der Hörspielfolge Die drei Fragezeichen und die Musikpiraten der Plattenfirma Galactic Sounds gestohlen wird)

4. Signation von Eine Welt voller Hoffnung (eine Soap Opera, die sich in der TV-Serie Alf der Titelheld gerne gemeinsam mit Dorothy, der Großmutter seiner Gastfamilie, ansieht und für die er später sogar selbst Drehbücher schreibt)

3. Hiking on Sunlight von Kartuna and the Wigs (erschienen auf dem auf незаконный records erschienenen Kassetten-Sampler Now that sounds like music, den die Titelheldin der TV-Serie Unbreakable Kimmy Schmidt käuflich erwirbt)

2. Signation von Welt der Wunder (eine TV-Dokuserie im Song Interlude der Kinderzimmer Productions)

1. Leanne (ein Song einer unbekannten Interpretin, der die gesamte letzte Staffel der TV-Serie Broad City über zu hören war)

Solche Überlegungen stelle ich also beim Büro Spielen an. Gerade dass von diesen Songs nicht mehr als der Name oder ein paar wenige Sekunden bekannt sind, und sie die Möglichkeit haben, alles zu sein, anstatt einfach irgendwie zu sein, macht sie mir lieber als die meisten real existierenden Songs – auch wenn gerade jetzt im Sommer zahlreiche Festivals (und Gelegenheiten draußen rumzustehen) die Möglichkeit bieten, zu erleben, wie intensiv und extensiv wirkliche Musik neue Räume eröffnet.

Aber vielleicht lässt sich auf die diese Kolumne gar nicht so heimlich durchziehende Unterscheidung zwischen dem Echten, Richtigen und dem Imaginierten, Potentiellen auch anwenden, was die Rapperin Sookie neulich sagte, als sie im Literaturhaus am Inn ihre Lyrics las und dazu befragt wurde, ob sie etwas so oder anders sehe: Sie lasse sich generell nicht gern binäre Oppositionen vorschreiben. Vieles sei halt weder das eine, noch das andere. Wir können gern bei einem Trendgetränk darüber diskutieren. Ich glaube, es wird heuer Negroni.

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Martin Fritz (erschienen als Vorwort im p.m.k Programmfolder 07/08_2018)