Ozeane und Vertrauen

Zum zweiten Mal (die Kolumne berichtete) weile ich nun in Hausach. Das ist einerseits schön, kann ich hier doch in Ruhe so entlegenen Tätigkeiten nachgehen wie ausgedehnte Wikipedia-Recherchen zu biologischen Klassifkationsproblemen und Luxusyachten anzustellen, um daraus dann Texte zu äh, ja was eigentlich? Irgendwie zusammenzudingsen halt (c) Martin Fritz

Dazwischen schaue ich First-Contact-Filme, also Filme, in denen außerirdische Lebewesen zur Menschheit Kontakt aufnehmen. Neben dem erzählerischen Kniff, mittels des Verhaltens der Menschen gegenüber den fremden Wesen etwas über die Menschen selbst zu erzählen, finde ich daran auch interessant, wie die Beschaffenheit der Aliens, ihrer Sprache und Raumschiffe in dem Filmen etwas über die Beschränktheit der Phantasie ihrer Macher*innen erzählt (oder über den fehlenden Mut der Produzent*innen, dem Publikum mehr zuzutrauen).

Außerdem habe ich das Mammutprojekt auf mich genommen, sämtliche Studioalben von Kylie Minogue am Stück anzuhören und zu ranken. Hier das Ergebnis: Kylie > Disco > Impossible Princess > Kylie Minogue > Light Years > X > Fever > Body Language > Kylie Christmas > Aphrodite > Enjoy Yourself > Rhythm of Love > Let’s Get to It > Kiss Me Once > Golden. Ich hege zwar den Verdacht, dass meine extensiven Studien in Kylielogie mein Urteilsvermögen in anderen Lebensbereichen völlig aufgelöst haben, aber das ist irgendwie der Sinn der Sache. Es ist eine Neukonfiguration des Gehirns und Geschmacks, die idealerweise aus solchen überkandidelten, mit völligem Ernst durchgeführten Unsinnsprojekten hervorgeht.

(c) Martin FritzWie das jetzt alles zusammenhängt? Warum ich mir einbilde, das alles führe zu irgendwie brauchbaren Texten? Ich weiß es nicht! Gerade dieses Nicht-Wissen halte ich für entscheidend, denn es geht den Leuten, deren Schreibweisen (und die Resultate davon!) ich am meisten bewundere, unter anderen darum, darauf zu vertrauen, dass der Zufall besser weiß als ihre Intention, was den Texten gut tut. Apropos: 2012 sagte der in p.m.k-Kreisen hoch verehrte Autor Rainald Goetz in seiner Antrittsvorlesung für seine Poetik-Gastprofessur in Berlin: „Die meisten Texte sind Mist. In allererster Linie natürlich gerade die vor einem selbst entstehenden eigenen Texte: Fast immer Mist. Schlecht, schwach, unbrauchbar. Warum? Ich weiß es nicht!“ Das finde ich tröstlich, befreiend und motivierend und höre mir die Stelle des Videomitschnitts jeden Tag zum Frühstück an.

Den aufmerksamen Leser*innen ist vor einigen Absätzen ein einerseits nicht entgangen, und sie werden jetzt belohnt mit einem andererseits: Andererseits ist es auch schade, so viele der Frühsommerklassiker wie Bogenfest, Heart of Noise, W:Orte, Slutwalk, Pride oder Bachmannpreis-Wettschwimmen nicht vor Ort mitzuerleben. Wie das heutzutage halt so ist, scrollt und skippt sich eins durch die einschlägigen Stories und Posts in den Feeds (ein Satz, der hoffentlich schon in wenigen Jahren klingt, als würden Außerirdische Kontakt aufnehmen wollen), seufzt kurz vernehmlich und liest dann weiter im Wikipedia-Artikel über Kladistik.

Was ich ebenfalls verpasse, ist die Antrittsvorlesung des in dieser Programmheft-Kolumne rekordverdächtig oft verkommenden Autors Thomas Meinecke in Berlin, exakt zehn Jahre nach Goetz. Meineckes schriftstellerisches Programm war immer schon davon geprägt, sich von der Vorstellung eines autonom aus nichts als seinem genialen Selbst schöpfenden männlichen Autors zu verabschieden, der abgeschlossene, perfekte Texte abliefert. Inspiriert von Philosoph*innen wie Hélène Cixous ging er den von diesen entworfenen, so genannten weiblichen Schreibweisen nach, in denen es ums Verbindungen herstellen und Auflösen traditioneller Strukturen und ihrer Verstrickungen zur Macht geht: Texte, die durch mehrere Autor*innen hindurchfließen, nie fertig sind, von niemand kontrolliert werden. In Berlin nun wird Meinecke, wie ich Ankündigungen im www entnehme, erzählen, wie er daraus eine nicht-binäre Poetik ableitet, ein fluides Schreiben, das sich von Kategorien wie männlich oder weiblich verabschiedet. (c) Martin Fritz

Bausteine davon werden auch im Buch „Ozeanisch schreiben“ im Gespräch mit Bettina Wahrig, Regina Toepfer und Carolin Bohn entwickelt, das erst nach Redaktionsschluss dieses Programmhefts erscheint. Ich werde es also zwischen Hitzewellen, dem Wikipedia-Arikel über Domänen, Kylie-Alben und Starkregenereignissen lesen und wünsche euch jetzt schon so einen schönen Sommer, wie ich mit diesem Text sicher haben werde. Ich mag zwar alle coolen Partys verpassen, aber Teil dieser Jugendbewegung, das möchte ich dann schon sein.

The future is non-binary! Fluid forever!

- Martin Fritz