Stay With The Troubles, Troubles, Troubles!

Pilzkiosk1Ein in komplexen Gesellschaften häufig zu beobachtendes Phänomen ist die Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit und die Ungleichzeitigkeit der Gleichzeitigkeit, oder einfacher ausgedrückt: Es passieren immer gleichzeitig Dinge, die nichts miteinander zu tun haben, und welche, die miteinander zu tun haben, zu verschiedenen Zeiten. Die Verschiebungen und Wechselwirkungen, die dabei auftreten, sind stets mehr oder weniger erkenntnisfördernd. So schreibe ich zum Beispiel diese Kolumne bereits in den Hundstagen, um darauf in den Urlaub zu fahren und zwei Wochen lang nur Donna Haraway und Jane Austen lesen zu können, damit ihr sie dann im Spätsommer lesen könnt (die Kolumne, nicht Haraway und Austen). Der Spätsommer wiederum ist traditionell die Jahreszeit, zu der sich flexible Kollektive und Projektgruppen zusammenschließen und Anträge für Vorbrenner, TKI open, stadt_potentiale (und wie die Kultur-Fördertöpfe noch alle heißen) schreiben. Das passiert in Zeiten, in denen die größten Waldbrände der Geschichte eindrucksvoll die Folgen des Klimawandels belegen und der Faschismus immer unverhohlener heraufdräut. Und wer will es da den Antragschreibenden verhehlen, dass ihnen Gedanken der Sorte kommen: Was sollen denn in dieser in Flammen stehenden Welt noch kleine geile Kulturprojekte?

Wer will es ihnen verübeln, dass sie beim Antragschreiben also zu Prokrastinations-Maßnahmen greifen, wie der zu überlegen, welcher Pilzkiosk (ein auch “Milchpilz” genannter, aus den 1950er Jahren stammender Kiosk in Form eines Fliegenpilzes, von dem es weltweit noch acht Exemplare in Betrieb und einige weitere ungeklärten Status gibt) denn die einzelnen Spielerinnen der Österreichischen Fußballnationalmannschaft der Frauen (die wirklich so heißt!) wären, wären sie Milchpilze (also Sarah Zadrazil ist der in Bregenz, Manuela Zinsberger ist der in Wehrda etc.)? Dazu mag auch führen, dass die Erinnerungen an vergangene Projekte natürlich schon ahnen lassen, wie es hinterher wieder gewesen sein wird: der ganze Streit, die Psychokriegsspiele, die Tränen, die das später begeisterte Publikum nie zu sehen bekommt, die aber noch jedes anständige (und schlussendlich vielleicht genau deshalb so wichtige und richtige) kollaborative Kunstprojekt hervorgebracht hat.

Pilzkiosk2Und wie soll es auch anders sein, wenn kluge Menschen kreativ und unter Einsatz all ihrer Überzeugungen, zwischenmenschlichen Vorgeschichten und Gefühle ohne fixe Regeln (dem totalen Terror der Situation ausgeliefert!) zusammenarbeiten. Das Gute an den Projektkollektiven ist noch, dass sie sich nach Projektende sowieso auflösen (und dann bekommen andere, die gar nichts dafür können, den ganzen aufgestauten Frust ab), aber ich frage mich immer, wie Pop-Bands das lösen, die oft jahrzehntelang zusammenarbeiten. Gern lese ich auch in Band-Biographien die Abschnitte, wo die Streithähne nur von getrennten Aufgängen aus die Bühne betreten, ihre Hits runternudeln und dann wieder in getrennte Privatjets steigen und in ihren Villen ihren Groll auf die Bandkollegen (denn nie las ich solches von Kolleginnen) nebst Drogenkonsum kultivieren, eine zerrüttete Ehe im Endstadium, deren bröckelnde Fassade nur noch für die Kinder (die Fans, das Geld) aufrechterhalten wird.

Da denke mir dann: So schlimm ist es wenigstens bei mir nicht. Nie lese ich auch, dass Frauenfußballteams zerkrachen, aber die haben ja auch fixe Rollen, Regeln und Autoritätsverhältnisse. Aber wäre nicht eine Gemeinschaft denkbar, die es dennoch schafft auch ohne diesen Regel-Kram (den wir ja überwinden wollten!) auszukommen? Träumerisch stelle ich mir vor, dass es in der Pilzkiosk-Spotter*innen-Community (die es sicher gibt, denn es gibt alles in komplexen Gesellschaften) ein von Liebe und Kooperation getragenes Zusammenleben gibt, in dem neue Spotter*innen von Erfahrenen selbstlos Tipps bekommen für schwierige Milchpilze wie den für Ortsunkundige kaum selbständig zu findenden im Hotel Lindenhof (Bad Sachsa). Aber natürlich ist auch das nur ein Traum, natürlich gibt es auch unter Milchpilz-Spotter*innen ein Internet-Forum mit Hass-Kommentaren, Missgunst, Neid und den einen Macker, der reicht, um es für alle zu ruinieren. Nichts als Troubles, Troubles, Troubles also. Und wenn wir es im Kleinen schon nicht schaffen, uns Räume zu schaffen, in denen wir anders miteinander umgehen, wie soll es dann im großen Falschen klappen? Vielleicht wäre meine imaginäre Milchpilzkiosk-Gemeinschaft ein Vorbild. Oder Donna Haraway hat Ideen dazu. Nur die werde ich ja erst gelesen haben, wenn ihr dies lest. Ich werde euch auf dem Laufenden halten!

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Martin Fritz (erschienen als Vorwort im p.m.k Programmfolder 09/10_2018)