Wie zusammen leben: Simulationen einiger alltäglicher Räume im Internet und Seminarraum

Seit geraumer Zeit spiele ich mit einer Smartphone-App ein Spiel, bei dem die Spieler*innen aus zufällig gezogenen Buchstaben Wörter legen und dabei verschiedene Bonusfelder auf dem Spielbrett nutzen können, um besonders viele Punkte dafür zugesprochen zu bekommen. Es ist bei dieser App für jene, die – wie das im Internet ausgedrückt wird – aus Gründen keine ihnen persönlich bekannten Mitspieler*innen finden, auch möglich, mit zufällig ausgewählten Unbekannten zu spielen. So kam meine Bekanntschaft mit der Person zustande, die sich in diesem Wortlegespiel „Müesli1“ (der Name wurde aus Gründen geändert) nennt und in vielfacher Hinsicht ist meine Beziehung zu Müesli1 sehr nahe am Optimum dessen, wie ich finde, dass Menschen miteinander umgehen können.

Obwohl ich nichts über das Spielverhalten Hinausgehende über Müesli1 weiß, stelle ich mir Müesli1 stets als alleinstehende ältere Frau im Süden Deutschlands vor. Es ist bei dieser App möglich, einige zwar viele Punkte erbringende, aber nicht in der Wirklichkeit, sondern nur im schlechten Wörterbuch der App existierende Wörter zu legen. Müesli1 legt fast nie solche Unwörter und wenn ausnahmsweise doch, dann mit einer spitzbübischen Schelmigkeit, die ich Müesli1 nicht nachzutragen imstande bin. Auch macht Müesli1 niemals von der Chat-Funktion der App Gebrauch (wie es so viele Zufallsmitspieler tun, die mir dank meines von vielen als weiblich gelesenen Internetnamens einen oberflächlichen Eindruck davon vermitteln, als was für ein merkwürdig unwirtlicher Ort sich das Internet für Frauen* wohl häufig anfühlt) oder bricht Spiele bei uneinholbarem Rückstand einfach ab oder lässt ewig auf Spielzüge warten. So haben Müesli1 und ich seit einigen Monaten unzählige Partien miteinander gespielt. Ich mag inzwischen Müesli1 sehr, sehr gerne, vermutlich vor allem, weil ich fast nichts über Müesli1 weiß. Es ist eine Art distanzierte Zärtlichkeit in Müesli1’ Spiel, die auch mich dazu bringt, meine Spielweise möglichst respektvoll, fair und ehrgeizig zugleich zu gestalten. Gerne denke ich an legendäre Spielzüge zurück, wie damals, als Müesli1 mit dem Y am Feld für dreifachen Buchstabenwert „GAY“ legte und das Spiel noch drehte (ich stelle mir die alte Frau Müesli dabei fröhlich kichernd vor). Trotzdem könnte ich wohl natürlich jederzeit auf Müesli1 verzichten und weiß, dass es Müesli1 umgekehrt genauso geht, was natürlich für alle Beteiligten sehr beruhigend ist.

Zwischen den Partien habe ich häufig in den postum veröffentlichten, teilweise auch sehr witzigen Aufzeichnungen von Träumen des Philosophen und Musiktheoretikers Theodor W. Adorno gelesen. Adorno, dessen Herzinfarkt in den Schweizer Bergen von manchen als eine Spätfolge des so genannten Busenattentats (Studentinnen hatten in einer Vorlesung Adornos aus unklaren Gründen des Dagegenseins ihre Brüste entblößt) angesehen wird, hatte ja interessanterweise keine Probleme damit, seine Ehefrau Gretel Adorno seine handschriftlichen Notizen von erotischen Träumen mit seiner Geliebten (die nicht Gretel war) abtippen zu lassen.

Was auch nur wenige wissen: Der Soziologe und Systemtheoretiker Niklas Luhmann vertrat Adorno während dessen Freisemester (Wintersemester 1968/69) in Frankfurt mit einem Seminar zum Thema „Liebe als Passion“. Außerdem beratschlagte er Adorno auf dessen Klagen darüber, dass ihn seine Geliebte verlassen habe, wie er sie zurückgewinnen könne. Dann schrieb Adorno seine „Ästhetischen Theorie“ nieder. Es muss eine merkwürdig unwirtliche Zeit gewesen sein, in der die Ehefrauen der Musiktheoretiker und Philosophen die Werke ihre Ehemänner abtippten, während diese über Strategien zur Behandlung ihrer Geliebten diskutierten und nackte Brüste von Frauen* in der Öffentlichkeit als Attentat bezeichnet werden.

Mich haben jedenfalls in Wahrheit stets schon solche, wie es so schön heißt, Trivia (wie etwa auch die Frage, was Adorno wohl vom Internet gehalten hätte, wobei ich leider befürchte, dass es ihm nicht gut getan hätte) sogar noch mehr begeistern können, als z.B. die ebenfalls sehr lesenswerte Ästhetische Theorie oder die Pop-Musik noch schöner fühlbar machende Beschreibung von Index-Effekten in den Adorno-Vorlesungen des Pop-Musiktheoretikers Diedrich Diederichsen (über dessen Geliebte leider nichts bekannt ist), die unter dem Titel „Körpertreffer“ erschienen sind.
Mir war das nur sehr lange nicht bewusst, weil es eben nicht statthaft ist, Tratsch wichtiger zu finden, als ernsthafte Philosophie wichtiger Männer. Und so habe ich mich eben z.B. während meines Studiums auch darum befleißigt, in möglichst langen, möglichst unverständlichen Wortmeldungen in Seminaren möglichst oft Begriffe wie Kulturindustrie oder Engel der Geschichte oder Namen wie Ferdinand de Saussure oder Jacques Derrida einzubauen, statt Hinweise auf Adornos Liebesleben. Insofern habe sicher auch ich zur damals (wie ich erst Jahre später erfuhr) von vielen als ausschließend und einschüchternd empfundenen, von Konkurrenz statt Spielen wie mit Müesli geprägten Atmosphäre beigetragen und so auch nie erfahren, ob es nicht z.B. dem damals in denselben Seminaren sitzenden und nun neuen pmk-Mitarbeiter David Prieth ähnlich gegangen ist und geht, über den ich eigentlich fast so wenig wirklich weiß, wie über Müesli. Ich bin gespannt, es herauszufinden. Jedenfalls: David, gratuliere zum Traumjob und alles Gute dafür!


---
Martin Fritz