Wie viele in p.m.k-Kreisen habe ich ein Faible für die in den frühen Nullzigern bekannt gewordene kanadische Pop-Punk-Musikerin und Style-Ikone Avril Lavigne. So habe ich in der Vorbereitung auf meine persönlichen Album-Jahrescharts 2022 (ja, ich bin alt wie ein Stein und ranke darum noch Alben statt Songs, so wie wir das halt im vorigen Jahrtausend gelernt haben) ihr bereits im Feber erschienenes Album „Love Sux“ noch mehrmals gehört. Und was soll ich sagen? Avril Lavigne ist das Kunststück gelungen, exakt so zu klingen wie ein Album 2022 halt klingt, das unbedingt wie 2002 klingen will.
Ich meine das nicht im Geringsten negativ. Es ist eine schlaue Entscheidung für einen Act von Lavignes Größe um mit dem Dilemma umzugehen, dass die Fans sich in Wahrheit doch nur immer und immer wieder den „Sk8er Boi“ (Lavignes Hit aus dem Jahr 2002) wünschen.
Es ist allgemein menschlich vollkommen verständlich und für Künstler*innen vermutlich ein großes Ärgernis, dass Fans stets mehr vom Gleichen wollen. Neutral betrachtet ist es einfach der sich stets neu wiederholende (und bei jeder Wiederholung spannender und besser werdende) Revival-Zyklus der Pop-Musik. Weil europäische und US-amerikanische Kids in ihren Teens und Twens seit ihrer Erfindung mittels Pop-Musik ihr Leben-Müssen in einer Gesellschaft erlernen, die sie sich nicht ausgesucht haben und die sie naturgemäß vollständig ablehnen, empfinden sie die Musik, die zufällig zum historischem Moment ihres Aufwachsens aktuell war, als ewigen Goldstandard. Wenn sie 20 Jahre später in den gesellschaftlichen Zwängen stecken, die sie früher als falsch erkannt hatten, erscheint das Früher als einfacher und besser – sowie die Musik von damals als ein Weg dahin zurück.
Niemand wird dies irgendwem verüblen, doch muss es für Musiker*innen, die lang genug around sind, die Hölle sein: Als 40-Jährige den einen Song, den sie als 20-Jährige geschrieben haben, für andere 40-Jährige aufführen – das Wort „würdelos“ comes to mind.
So fühlte es sich jedenfalls an, als ich als alter Mensch unter anderen alten Menschen neulich in der Wiener Arena auf das Konzert der Weilheilmer Indie-Band „The Notwist“ wartete. Diese größenordnungsmäßig und formal dem p.m.k.-Kosmos näher stehende Band wurde hier ebenfalls um die Jahrtausendwende abgöttisch verehrt, weil sie auch aus der Provinz kam und die langweilige Indie-Gitarrenmusik der Zeit mit elektronischem Gefrickel und komplex-vertrackten Songstrukturen auffrischte. Auch wenn Notwist (wie Lavigne) vor- und nachher laufend Musik veröffentlicht hatten, war allen in der Halle klar, dass sie nur wegen des 2002er Albums „Neon Golden“ hier waren. Doch die Problemstellung, Teil eines peinlich-musealen Reenactments von 2002 zu werden, wurde von Notwist elegant umgangen. Sie spielten ihre alten Songs nicht nicht (wäre auch affig), sondern zerlegten sie in ihre Einzelteile, um sie einmal durch den Reflexions- und Tanzbarkeits-Fleischwolf gedreht neu zusammenzusetzen. Die Fans hatten ihre wiedererkennbaren geliebten Sounds und Hooks, die Kunst ihre Varianz und alles war gut.
Das für 2023 (also zwei Retro-Zirkel später!) angekündigte Realfilm-Remake des 1989er Zeichentrickfilms „The Little Mermaid“ schließlich wurde bereits vor Erscheinen von Rassist*innen kritisiert, weil mit Halle Bailey keine schneeweiße Schauspielerin die Hauptrolle übernimmt. Eine wohlmeinende Interpretation dieses Backlashs lautet, diese „Fans“ wünschten sich einfach nur, alles bliebe, wie es einmal war. Doch gut war es eben früher schon nicht, genau davon handelt bereits der 89er-Film. Trotzdem oder gerade weil die Grundstory (Ariel gibt ihr Leben im Wasser für ein Love Interest auf) so furchtbar ist, bot der Film gerade für ein queeres Publikum, das ihn eben queer las, ein besonderes Identifikationspotential: Dass Ariel nicht leben und lieben kann, wen und wie sie will, ist nicht ihre Schuld, sondern die der sie umgebenden Gesellschaft. Es liegt nahe, dass die Neuverfilmung weitere Falschheiten ebendieser augenscheinlich machen kann.
Es gibt im Umgang mit Nostalgie – oder wie die Kolumnistin Mary Schmich dies 1997 ausdrückte: a way of fishing the past from the disposal, wiping it off, painting over the ugly parts and recycling it for more than it's worth – also mehrere ästhetische Strategien: die Oberfläche als trojanisches Pferd benützen, in dem besseres Songwriting und Produktion steckt (Lavigne), De-Re-De-Konstruktrion (Notwist) oder Explifizierung und Ausweitung der Diversität (Little Mermaid). Welche die 2023 ihr 20-Jahre-am-aktuellen-Ort-Jubiläum feierende p.m.k wählen wird? Ich bin gespannt!
- Martin Fritz