Es passieren merkwürdige Dinge bei unserem wilden Ritt durchs All mit Mother Earth: So gab es in der grauen Vorzeit der 1990er tatsächlich noch aktives und leidenschaftliches Ablehnen von Musik (es ist heute kaum noch nachvollziehbar). Worauf sich diesbezüglich viele einigen konnten, war jene von Norah Jones. Aktuell (mein 90er-Jahre-Ich hätte darüber nicht nur die Stirn gerunzelt!) ertappe ich mich sehr häufig dabei, deren aktuelle Platte in die Playlist zu schieben (und überlege, ob sie in meinem Jahrescharts noch vor Charli XCXs Brat gereiht wird!), statt etwa jene von Beyoncé, wie es sich doch eigentlich gehört (mein aktuelles Ich runzelt ein bisschen die Stirn darüber, aber was will maus machen). Doch keine Angst: Dies ist nicht der Platz, wo noch irgendein weißer Dude ungefragt seine Meinung zu Beyoncés Country-Album darlegt – auch wenn es mir schwerfällt, nicht meinen Teil beizutragen zur Aufbauschung des #Horsegate (das von Frederik Heyman – der u. a. auch für die Musikerin Arca bereits Artwork ablieferte – digital bearbeitete Pferd am Cover hat eine physiologisch unmögliche Beinhaltung). Was Menschen nicht alles machen: Darüber diskutieren, zu welchen Gangarten die Vorder- oder Hinterbeine eines Tiers auf einem Schallplatten-Cover gehören.
Aber warum auch nicht und das ist im Vergleich auch noch verhältnismäßig linder Quatsch! So war ich z.B. neulich in Napoli, was ich hiermit allen Norah-Jones-, Arca- und Beyoncé-Fans nur empfehlen kann. Dort wird in einem Fläschchen in einer Kirche angebliches gestocktes Blut des Stadtheiligen San Gennaro aufbewahrt und zu hohen Feiertagen hervorgeholt. Kirchliche Würdenträger inspizieren es dann vor Publikum und wenn es sich dabei verflüssigt, gilt dies als gutes Omen, andernfalls gewinnen andere Teams im Fussball, bricht der Vesuv aus, oder widerfahren der Stadt andere Katastrophen. Weil diesem Ritual so viele Leute beiwohnen wollen, wird es mittels Videoleinwand auf einen größeren Platz übertragen, wo dann alle mit ihren Mobiltelefonen Videos vom Blutwunder anfertigen. Und ein Video-Mitschnitt davon läuft in dieser Kirche im Dauerloop auf einem großen Bildschirm. Wie es Meuse im frühen 21. Jahrhundert halt so machen, machte meine Partnerin mit ihrem Mobiltelefon ein Video dieses Videos und ich mit meinem Mobiltelefon ein Foto ihres Mobiltelefonbildschirms beim Filmen eines Films über die eine Videoübertragung des Blutwunders filmenden Menschen. Wie so oft im Leben ergibt keine dieser Handlungen für mich irgendeinen Sinn, und doch hat sich alles exakt so zugetragen und ist irgendwie auch schön.
Und dann gibt es auch noch objektiv schädlichen Unsinn. Zurück aus Napoli etwa stolperte ich bei der Recherche zu einem Lyrik-Projekt über menschliche Kontaktversuche zu außerirdischem Leben (fragt nicht!) mal wieder über die berühmte Pioneer-Plakette. Diese wurde an den Raumsonden Pioneer 10 und 11 angebracht, die unser Sonnensystem verlassen haben, um außerirdischen Lebewesen gegebenenfalls ein paar Fun-Facts über uns Menschen zu vermitteln. Darauf sind zwei nackte Personen abgebildet, wobei ins Auge sticht, dass eine der beiden am entsprechenden Ort keine Vulva, sondern überhaupt keine abgebildeten Genitalien hat. Linda Salzman und Carl Sagan, die diese Plakette und Zeichnung entwarfen, fürchteten nämlich, die NASA wäre zu sittenstreng und wollte Aliens nicht mit so unanständigem wie einer schematisch angedeuteten Vulva konfrontieren. Was auf Instagram nicht geht, geht im interstellaren Raum schon gar nicht! Inzwischen haben sich die damaligen Vorgesetzten zu Wort gemeldet und behauptet, sie hätte eine Vulva ohne weiteres abgesegnet. Nur haben die jetzt halt leicht reden, wo die Raumsonde seit über 50 Jahren unterwegs und über 20 Milliarden Kilometer von der Erde entfernt ist. Es ist kaum so, dass wir es jetzt noch ändern könnten, auch wenn wir als Menschheit für immer damit leben müssen, zur Lachnummer des Universums zu werden, falls wer die Pioneers findet. Ich finde Sagans und Salzmanns unnötige Selbstzensur kann und soll uns ein Vorbild sein, selbst in den richtigen Fällen nicht zu ängstlich zu denken, irgendwelche Publika wären für irgendwas noch bereit, etwas sei zu sperrig oder abseitig oder unanständig, und deshalb die eigenen Texte und Kunstwerke langweiliger und vermutet mainstream-tauglicher zu machen.
Aber zu harsch möchte ich Salzman und Sagan auch wieder nicht kritisieren, ist doch ihre Story auch eine dieser vielen unwahrscheinlichen und dennoch exakt so geschehenen Handlungen, die trotzdem oder gerade deshalb vielen Meuse Freude macht, wenn sie davon hören. So, und jetzt höre ich mir noch einmal „ Staring at the Wall“ von Norah Jones an und denke an Blutwunder.
- Martin Fritz