Es ist ein Naturgesetz, dass alle Indiewuckl (so wurden in den Nullzigern Leute liebevoll genannt, die Läden wie die p.m.k. frequentieren und dabei auch so ausehen) irgendwann im Leben eine Sonic-Youth-Phase durchmachen.
Meine ist gerade jetzt, und schuld daran Dietmar Dath, der gerade mal wieder einen Strauß verschärft großartiger miteinander verknüpfter Bücher („Niegeschichte“, „Neptunation“, „Stehsatz“, „Gentzen oder: Betrunken aufräumen“) veröffentlicht hat. Denn in der Space Opera „Neptunation“ spielen (neben Miley Cyrus, aber meine Cyrus-Phase ist bekanntlich lebenslang) Songs von Sonic Youth eine wichtige Rolle. Nun macht das Wissen um die – gelinde gesagt – problematische Beziehung der Ex-Eheleute und Bandmitglieder Kim Gordon und Thurston Moore die Musik dieser Band nicht mehr ungeteilt genießbar, aber was ist denn schon jemals widerspruchfrei gewesen in dieser von Kapitalismus und Patriarchat auf ihr schlimmstes Gegenteil kaputtruinierten Gesellschaft.
Sonic Youth hat bekanntlich einen beachtlichen Back-Katalog, den systematisch durchzuhören wie „À la recherche du temps perdu“- oder „Mann ohne Eigenschaften“-Lesen ist: eine Aufgabe, die selbst im Lockdown Wochen in Anspruch nimmt, aber einmal im Leben muss es halt sein. Ich kann es nur sehr empfehlen, das Nacht- und Tagwerk zu Sounds zu verrichten, die von minutenlangen Noiseparts am Ende obskurer Live-Aufnahmen über die unter dem Namen „Ciccone Youth“ aufgenommene Madonna-Tribute-Platte bis hin zu den auf dem hauseigenen SYR-Label veröffentlichten improvisierten Gitarrenfeedbackorgien reichen, die ehrlich gesagt gelegentlich die Grenze zum Quatsch mindestens touchieren.
Das andere, das mir dabei hilft, im dritten Jahr der Pest halbwegs die Hoffnung nicht zu verlieren und allen mit der nötigen Grazie, Geduld und Sanftheit zu begegnen, ist Eisbaden. Da es eben sonst nichts zu tun gab, haben Freund*innen und ich damit bereits letzten Winter angefangen. Wer es nicht betreibt wie die auf Leistung, Rekorde und Geld verdienen Ausgerichteten, wird nicht enttäuscht sein. Das Erstaunliche ist, dass es geht. Es braucht nicht mehr als ein bisschen liebevollen Gruppendruck, den fixen Entschluss und schon ist es möglich, im wenige Grad kalten Wasser des Baggersees zu baden. Es ist wie 28 Minuten lang verstimmte Gitarrenimpros aufzunehmen und auf Platte zu veröffentlichen: Machbar, und manche machen es sogar, auch wenn niemand weiß warum.
Wir Menschen habe schon merkwürdige Zeitvertreibe, denke ich dann im Wasser, umgeben von Stockenten und Äschen, wobei letztere als wechselwarme Tiere vermutlich, wenn sie Lächeln könnten, ein sanftes Lächeln über hätten für uns Tiere, die einen Großteil ihrer Energie dafür verschwenden, die Körpertemperatur konstant zu halten und für die eine Abkühlung des eigenen Leibes von wenigen Graden schon ein großes Ding ist. Objektiv betrachtet ist die Grundidee von Lebewesen überhaupt bizarr: Die eigene Grundstruktur stetig möglichst gleich zu reproduzieren bei wechselnden Umweltverhältnissen mittels elaborierten Stoffwechseln. Wie umständlich! Und doch sind Lebewesen in der Lage, Wasser zu spüren. Wobei – zumindest meinem laienhaften Verständnis von Physik nach – doch Wasser wie jede Materie größtenteils eigentlich aus nichts besteht. Zwischen den Atomen eines Moleküls ist vor allem viel Platz mit keiner Materie, und innerhalb eines Atoms zwischen seinen Teilen nochmal viel mehr und aus diesem vielen Nichts und dazwischen wirkenden Kräften, die wir kaum verstehen, besteht dann Baggersee-Grund, Wasser und Atmosphäre darüber. Und über dieser Atmosphäre ein Sonnensystem, das auch großteils leer und uns so unbekannt ist, dass in Daths Sci-Fi-Romanen seine Held*innen fremde Zivilisationen schon auf der Reise zum Neptun treffen können, ohne dass das weit hergeholt wirkt. Und das Sonnensystem ist nur ein winziges Staubkorn in einem viel größeren Haufen von noch viel unbekannterem Nichts.
In einem riesigen Dings aus fast Nichts, von dem wir noch weniger verstehen, stehen wir also rum und spüren das kalte Blut aus den Extremitäten ins Körperinnere fließen. So in etwa sind meine Gedanken dabei, was sich eins eben so denkt, wenn der Körper alles Mögliche runterfährt, um mit dem plötzlichen Abkühlen fertig zu werden.
Ob die heute alte Musik von Sonic Youth zu ihrer Zeit auch so sehr nach Zukunft geklungen hat wie heute zum Beispiel Arca? Diese aus Venezuela stammende Musikerin hat heuer gleich vier Alben veröffentlicht, die ich persönlich jeder Raumschiffcrew bei einem Flug zu Neptun, Phaeton, Uranus oder anderen Planeten dringend einzupacken empfehlen würde.
- Martin Fritz