Was viele Menschen eint, ich hier bereits gelegentlich erwähnte habe und worüber doch sonst selten gesprochen wird, ist eine gesteigerte Beschäftigung mit dem Thema Schlaf. Besonders verwundert es nicht, dass viele diese Art schätzen, sich der Gesellschaft, in der wir leben müssen, zu entziehen. Kein geringer Teil der Faszination ist gewiss auch Schlafstörungen zuzurechnen. Diese betreffen übrigens nicht-menschliche Säugetiere durch den Klimawandel schon jetzt: Weil es im Winter zu warm ist, erwachen diese Tiere viel zu früh aus dem Winterschlaf, was für sie lebensbedrohliche Auswirkungen haben kann.
Meine eigenen, weit weniger dramatischen Schlafprobleme behandle ich wie jeder normale Mensch nicht, indem ich ihre Ursachen versuche herauszufinden und zu behandeln, sondern indem ich auf YouTube Videos suche, die mir beim Einschlafen helfen. Unübertroffen ist hier der Kanal „Held der Steine“, auf dem ein Inhaber eines Spielzeuggeschäfts verschiedene Klemmbaustein-Produkte rezensiert, vor allem jene des Konzerns Lego. Wenngleich ich als Kind sehr gerne mit diesen spielte, ist mir das Thema inzwischen so fern und gleichgültig, dass diese Videos mich dank der monotonen Stimme des Steine-Helden verlässlich binnen Minuten einschläfern.
Doch es ist leider nichts so egal, dass es nicht doch gesellschaftspolitische Implikationen hätte, wie etwa in einem Video (schon in den Anfangsminuten, die ich noch im Halbdämmerzustand mitbekam) klar wurde, in dem der „Held“ ein Lego-Set der Reihe „Friends“ bespricht. Das Marketing dieser Reihe richtet sich speziell an Mädchen, das fragliche Set stellt ein Autorennen dar und der Held zeigte in seiner Review dazu eine bemerkenswerte Ignoranz nahezu sämtlicher Diskurse zu Geschlechterstereotypen.
Aus psychohygienischen Gründen will ich natürlich besonders in der verwundbaren Zwischenphase zwischen Wachsein und Schlaf lieber Menschen zuhören, die sich besser dabei auskennen, worüber sie sprechen. Und die gibt es: Wie ich in meiner wachen Zeit dreimal täglich erwähne bietet Natalie Wynn auf ihrem YouTube-Channel „ContraPoints“ kunstvolle Videoessays, die gleichermaßen unterhaltsam wie informativ aktuelle politische Themen von Incels über Kapitalismus bis zu Schönheit behandeln.
Wynn wurde nun neulich selbst Gegenstand einer erbitterten Kontroverse. Denn sie gab in einem ihrer letzten Videos Buck Angel eine kurze Sprechrolle. Buck Angel ist ein Transmann, also ein Mann, dem bei seiner Geburt ein weibliches Geschlecht zugesprochen wurde und gehört zu jener älteren Generation von Transpersonen, die sich (noch gegen viel mehr Widerstände als es sie heute immer noch gibt) durchsetzen mussten, um ihr Geschlecht auch öffentlich anerkannt leben zu können. Und Buck Angel hat nun Äußerungen getan, die so verstanden wurden, dass er der bizarren Ansicht sei, nur jene Menschen gehörten zur Trans-Community, die eindeutig und klar das jeweils „andere“ Geschlecht hätten, als ihnen bei der Geburt zugesprochen wurde (so als gäbe es nur zwei Geschlechter) und die auch anstrebten, dies mittels medizinischer Maßnahmen an ihrem Erscheinungsbild zu signalisieren. Dies ist natürlich sehr verletzend für Menschen, die darauf lieber verzichten und/oder keinem der beiden binären Geschlechter „Frau“ oder „Mann“ angehören und die sich z.B. als Enbys (von N.B., also Non-Binaries) oder Genderqueers bezeichnen. Von einer so differenzierten Denkerin wie Natalie Wynn hatten sich ihre Fans jedenfalls nicht erwartet, solchen Menschen und deren veralteten, verletzenden Denken ein Bühne zu bieten. Die Kritik wurde dabei so heftig, dass dazu aufgerufen wurde, Wynns Videos nicht länger zu konsumieren, den Kontakt zu ihr abzubrechen, sie – wie das heute heißt – zu canceln.
Wynn reagierte darauf mit ihren Video „Canceling“, eine schwierig zusammenfassenbare (schaut es euch einfach in voller Spielfilmlänge an!) Meditation über diese Causa mit der Conclusio, innerhalb marginalisierter Communitys dem Verzeihen und dem Verbindenden den Vorzug zu geben vor dem Kontaktabbruch und absoluten Ansprüchen. Dieses Video gehört zu den mich am meisten beeindruckt habenden Dingen der letzten Zeit überhaupt.
Es ist bitter, dass wir als Menschheit gerade jetzt einen so verfeinerten Umgang miteinander erlernen, wo wir gleichzeitig gerade die Lebensgrundlage für uns und die nicht-menschlichen Tiere, Pflanzen und viele andere Lebewesen für lange Zeit vernichten, indem wir den Planeten wider besseres Wissen aufheizen bis es zu spät ist. Darüber beim nächtlichen Wachliegen zu grübeln ist eines dieser größten kleinsten Luxusprobleme, die wir Menschen gerade so haben.
