Wenn ihr dies lest, liege ich in einem Pinienwäldchen auf einer kleinen Insel, deren Name ich nur sehr guten Freund*innen preisgebe. Denn auch wenn ich ans Teilen von allem mit allen glaube, ist meine Angst zu groß, dass diese Insel zu sehr darunter litte, wenn zu viele von ihrer Schönheit wüssten, die gerade darin liegt, dass es dort fast nichts gibt außer Wäldern und Felsen und jedenfalls nur sehr wenigen Menschen.
Die Ungleichzeitigkeit von Lektüren und Schreiben bringt es nun mit sich, dass gelegentlich nach Redaktionsschluss Passierendes die Kolumne sehr schnell sehr alt aussehen lassen. Meine Kritik an Rammsteins Ästhetik im letzten Programmheft z.B. wirkt mit dem Wissen von jetzt fast zynisch. Denn das größte Problem an der Band ist augenscheinlich bei Weitem nicht, dass ihre Musik so schlecht ist. Wie auch immer diese Causa sich weiterentwickeln wird, für mich steht jetzt schon zweierlei fest: Erstens, dass mutige Frauen wie Shelby Lynn und Kayla Shyx zu den Held*innen des Jahres gehören, die mit dem Veröffentlichen ihrer Erfahrungen ein System des Machtmissbrauchs publik machten und damit hoffentlich zum Einsturz bringen werden. Zweitens, dass sich missbräuchliches Ausnutzen des Machtgefälles zwischen Stars und Fans, zwischen alten Männern und jungen Frauen bestimmt nicht auf eine Band beschränkt, sondern es sich hier um ein strukturelles Problem handelt.
Wie in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen bewirkt der allgegenwärtige, tief in uns allen verankerte Sexismus, dass auch linke und alternative (Konzert-)Räume für weiblich gelesene Personen nicht sicher sind. Das betrifft Räume wie die p.m.k genauso wie die Stadien und Arenen dieser Welt. Gerade wenn und weil wir in unseren Räumen Menschen ermöglichen wollen, ihre Grenzen zu testen, wenn wir für Hedonismus, Party und Exzess sind, haben wir noch viel zu tun, um sicher zu stellen, dass dies in einem für alle sicheren und angenehmen Rahmen geschieht. Und dabei kann unser Anspruch nicht an den Grenzen des Strafrechts enden. Sexualisierte Gewalt und das System, das sie so allgegenwärtig macht, beginnt viel früher. Wer noch nie bei einem Konzerts oder bei einer (Aftershow-)Party eine Situation mitbekommen oder davon gehört hat, die zwar keine Straftat, aber eindeutig nicht OK für alle Beteiligten war, geht entweder sehr ignorant durchs Leben oder hat extremes Glück gehabt.
Damit sich daran endlich etwas ändert, müssen wir vielleicht auch unseren Umgang miteinander von Grund auf ändern. Und es soll doch auch einmal eine Jugendbewegung gegeben haben, die den Anspruch hatte, das System abzuschaffen, das Menschen eingeteilt in abgehobene, sich alles erlauben könnende Stars und entmenschlichte Publikumsmasse. Wie hieß sie noch, mir fällt’s bestimmt gleich wieder ein…
Manchmal ist es jedenfalls auch eine sinnvolle Strategie, sich im großen Falschen auf Inseln des weniger Kaputten zurückzuziehen und dort einen besseren Umgang miteinander auszuprobieren und aufzubauen. In der mit der Offline-Welt korrelierenden Online-Welt habe ich gerade eine solche Nische kennen gelernt. Es ist Mastodon, ein dezentrales Soziales Netzwerk, auf das sich viele geflüchtet haben, denen Twitter durch seinen Eigentümer zu toxisch geworden ist. Derzeit geht es auf Mastodon nicht (wie bei Twitter) um Reichweite um Rechthaben, sondern darum, einen kleinen Kreis ähnlich gesinnter Mäuse (so nennen wir dort einander) zu finden, mit denen wir dann sanft und lieb über uns wichtige Themen wie Kylies Sommerhit, Kristen Stewart, Gerard Ways Sexyness und frühe Säugetiere des Mesozoikums reden. Es ist eine der vielen bitteren Ironien unserer Zeit, des Pyrozäns, dass wir Menschen ausgerechnet jetzt, am Ende ihrer Ära, erst bemerken, um wie vieles früher und vielfältiger und unhingeder als bisher gedacht Säugetiere wie Repenomamus, Volaticotherium und Castorocauda zwischen Sauriern und Tethys lebten. Ihnen nachzuspüren erzeugt mir ein Gefühl wie es die Sängerin ANOHNI in ihrem Song „Manta Ray“ über das aktuelle Massenaussterben beschreibt.
Solches interessiert und versteht aber naturgemäß fast niemand, weswegen es in den auf schnelle Aufregung und Gegenaufregung getrimmten anderen Sozialen Netzwerken nicht vorkommt und ich mich es auch kaum getraue hier zu schreiben. Doch immerhin: Es gibt (z.B. mit Mastodon) Orte für die, die nicht dieser Logik leben wollen oder können, an denen wir für einen kurzen Moment uns nicht und auch sonst nichts verkaufen müssen und einmal nichts verkauft bekommen (das ist übrigens auch, was so sehr liebe an der geheimen Insel). Sie sind damit so wertvoll, dass ich sie am liebsten fast ebenfalls nicht verraten hätte.
- Martin Fritz