Troubles im Theorieinterregnum
Schnorcheln ist bekanntlich das bessere Spazierengehen aka die beste Beschäftigung für Menschen überhaupt. Doch was ich erst im heurigen Sommer erfuhr: Dank immer wärmerer Meere steigt auch die Zahl der dabei zugezogenen Ohrinfektionen. So habe ich meinen Aufenthalt auf einer kleinen kroatischen Insel heuer vor allem am Ufer verbracht mit verschiedenem Klingeln, Pfeifen und Rauschen im rechten Ohr.
Es klang ein bisschen wie eine Audio-Installation im Nachmittagsprogramm bei einem Festival für experimentelle Gegenwarts-Musik wie z.B. dem Donaufestival Krems, zu der alle pflichtschuldig gehen, um für sich das Selbstbild aufrecht zu erhalten, nicht nur an der Party interessierte Saufköpfe, sonst kunst- und kulturinteressierte Feingeister zu sein. In irgendeiner Zwischennutzungshalle steht bei sowas stets ein alter Fernseher und irgendwoher kommen Geräusche, die wir ein paar Jahre später bei Musiker*innen wie Holly Herndon (und noch später bei Björk) wiederhören werden. Dank Schlafentzug und Substanzgebrauch stehen wir davor, lesen den Beschreibungstext und versuchen uns nicht anmerken zu lassen, dass uns (augenscheinlich anders als allen anderen, die wissend dreinschauen) trotz aller Haraway-Zitate im Programmheft dazu nur einfällt: Tja, so was gibt es also auch.
Zu dieser Tonspur las ich vor der aufgeheizten Adria neben der Berichterstattung über Britney Spears’ Hochzeit in meiner Lieblingszeitschrift (die Kolumne berichtete) „Diva e Donna“ (samt dem ikonischsten Foto des Jahres mit Madonna, Paris Hilton et al) das Buch „Schwein und Zeit“ von Fahim Amir. Ich lese zwar, um die verheerenden Auswirkungen eines Germanistikstudiums auf die Diversity meiner Lesebiographie sowie Geist und Körper abzufedern nur mehr in sehr begründeten Ausnahmefällen Bücher von Männern, aber da die kommunistische Autorin Bini Adamczak in ihren Insta-Storys lustige Zitate daraus gepostet hat und das Buch inzwischen als Taschenbuch erhältlich ist, kam es ins Reisegepäck. Während in meinem Gehörgang Bakterien gegen Antibiotika kämpften, erfuhr ich so von widerständigen Kämpfen von nicht-menschlichen Tieren gegen den Kapitalismus. Das Vorwort zur zweiten Auflage trägt ein Zitat des deutschen Rappers Haftbefehl als Motto. Vermutlich lag es nur am auf Dauer doch irritierenden Soundteppich, aber deutschen Rap zu zitieren erschien mir als inzwischen einfach objektiv uncool. So was machten doch in den Nullzigern (nachdem gerade mittels diverser diskursiver Eiertänze Gangster-Rap als cool und OK eingeordnet worden war) 25-jährige weiße Bürgersöhnchen-Autoren frisch vom Literaturinstitut, um sich als irgendwie wild und gegenwärtig zu inszenieren – während gegenwärtig doch die relevante Musik die der Gays und Girlies (wie das im Internet genannt wird) ist, die sogenannte ABC-Musik (Arca, Beyoncé, Charli XCX), oder?
Erstere trat heuer auch beim Donaufestival auf, das übrigens heuer einen besonders ignoranten rassistischen Text im Festival-Reader abdruckte und sich nach Protest so halbwegs dafür entschuldigte. Bei Programmheften gibt es übrigens gerade ein eher spezielles, aber halt doch auch bestehendes Problem. Einige Jahre konnte nämlich in jedem Beschreibungs-, Werbe- und Antragstext für alle Podiumsdiskussionen, Punkkonzerte und Performances einfach die Philosophin Donna Haraway zitiert werden, und es war für alle Beteiligten klar, dass das damit Beschriebene als cool und OK einzuordnen war. Seit einiger Zeit gilt allerdings Haraway als objektiv abgefrühstückt, nur ohne dass klar wäre, welche*r Autor*in die Nachfolge antritt als Referenz, auf die sich alle einigen können. So unterschiedliche Kandidat*innen wie Silvia Federici, Paul Preciado, Rosi Braidotti, Karen Barad, Anna Tsing oder eben auch Fahim Amir wurden eingebracht (nicht auf Englisch/Deutsch schreibende, nicht-westliche, nicht-weiße Autor*innen darunter: 0), doch niemand konnte sich bisher fix durchsetzen – eine ausgesprochen peinliche Situation für alle Beteiligten.
Denn relevante gegenwärtige Pop-Musik (aka Kunst) braucht zusätzlich zu ihrer natürlichen Coolheit immer noch eine diskursive Zutat von denjenigen, die halbcool sind und somit genug Zeit haben, sich durch Theoriewälzer zu schmökern, die erklären, warum cool und OK ist, was alle als das erkennen – und es dadurch erst vollständig dazu machen.
Ob jetzt „Schwein und Zeit“ die neue Haraway wird? Ich zweifle! Doch ich suche gern weiter. Wenn ich mich nicht – da meine Ohr-Infektion inzwischen geheilt ist – nur mit Flossen, Tauchbrille und Schnorchel ausgerüstet dem litoralen Holobionten (ein Begriff, den ich bei Donna Haraway gelesen habe) widme.
- Martin Fritz