Texte

You don’t have to be so strong

Neulich verließ ich die p.m.k müde und glücklich nach drei Tagen eines Festivals namens „Positive Futures“ – ein Titel der in seiner Zuversicht fast schon provokant klingt. Denn alles steht in Flammen: Wiederkehr von Faschismus, Krieg, Hitze, Pandemiewinter ohne Schutz für Vulnerable, Angst, Wut und Trauer – all das lässt viele sich fragen, wie wir da noch irgendwie weitermachen können wie bisher, wie wir noch über Pop-Musik oder Kunst reden können; und manche lässt es die Antwort geben: genau deshalb und gerade zu fleiß, weil es das ist, wofür unsere Leben eigentlich da sind und was uns Trost, Hoffnung, Empathie, Erkenntnis und Freude bringt.

What else is new? The kids are alright und spoilen uns mit relevanter Musik zur Zeit: Sei es die beim Festival aufgetretene türkische Superstar-Queer-Icon Gaye Su Akyol, Olivia Rodrigo, eine Art Taylor Swift, die auch für die nicht ganz so weißen oder nicht ganz so heterosexuellen Menschen interessante Musik macht, oder Romy, die nach ihrer Band The xx nun ein Soloalbum veröffentlicht hat mit dem Trance-Revival-Überhit Strong, in dem sie allen zuflüstert, die es hören müssen: „You don't have to be so strong“. Und das waren jetzt nur mal meine aktuellen Top 3.

Apropos: Woher kommt eigentlich diese meine und Pop-Musik inhärente Obsession zum Ranken und Raten, zum ständigen Erstellen von Charts, Listen und Wertungen? Ist es nicht nach allem, was ich den bisherigen 37 Kolumnen an dieser Stelle über Sanftmut und Solidarität bereits gesagt habe, ein Widerspruch, dem Beurteilen und der Konkurrenz so viel Raum zu geben?(c) Martin Fritz

Doch das Prinzip Kunst zu bewerten und in Reihungen und Hitlisten zu bringen, prägt mein irgendwie Weiterwursteln auf dieser brennenden Welt in sehr vielen Bereichen sehr stark. Das beginnt mit meiner mit dem cheesigsten Dad Joke, den ich jemals irgendwo durchgebracht habe, benannten Kolumne „Uneasy Listening“ im 20er, die sich immer an einer Bestenliste aufhängt, geht über meine Begeisterung für TV-Sendungen wie Eurovision Song Contest, Bachmannpreis und RuPaul’s Drag Race, die bei aller inhaltlichen Verschiedenheit dem selben Schema (aus mehreren Kandidat*innen, die künstlerische Darbietungen performen, werden Gewinner*innen ermittelt) folgen und setzt sich fort bei meiner heuer 20 Jahre währenden Begeisterung für das Bühnenformat Poetry Slam, das sein Publikum unter anderem genau damit findet, dass es aufgefordert wird, die Bühnenperformances zu bewerten.

Ich könnte noch weitermachen, vom in Arbeit befindlichen auf Listen aufbauenden Gedicht „6X6X6“ erzählen oder von „Radio Ranking King“, einer Radio-Freirad-Sendung, der Sieger*innen kürenden Quizshow namens „What the Franz“ oder davon, wie sich im Sprachgebrauch „10 von 10“ als Synonym für „sehr gut“ etabliert hat.

Wie kann es sein, dass etwas, das eigentlich nicht geht, das eigentlich Quatsch ist, das eigentlich dem schönsten Lebensbereich komplett entgegenläuft, dass das so faszinierend ist, so viel Raum in meinem Denken, Fühlen und Handeln einnimmt? Denn ist Kunst nicht das, was uns zu anderen Menschen in ein Verhältnis setzt, in Beziehungen bringt, die eben nicht von Konkurrenz geprägt sind, vom es kann nur eine*n geben, vom besser, schneller, stärker, höher, schöner Sein als die Anderen?

(c) Martin FritzLiegt die Antwort vielleicht gerade in diesem Paradox? Ist es vielleicht gerade deshalb so sinnvoll und fun, Kunstwerke zu ranken, weil Kunstwerke singulär sind und jedes sich seine Regeln selbst stellt, nach denen es dann hinterher gar nicht mehr anders sein kann, als es eben ist, und somit per Definition nicht vergleichbar und rankbar? Weil es eben keine eindeutige Antwort darauf gibt, sondern wir uns in den Bereich des Ermessen und Herummeinens begeben und wir mit unseren Meinungen etwas über unsere Beziehung zur Kunst und zum in der Welt sein sagen können, das wir sonst nicht artikulieren könnten? Sind deshalb vielleicht die besten Kunst-Bewertungs-Machinen gerade jene, die ihr Tun zugleich vollkommen ernst nehmen und dabei um dessen grundsätzliche Lächerlichkeit und Unmöglichkeit wissen, wie z.B. das mit völlig übertriebenem Aufwand ohne jede Not hyperkomplexe und umständliche Wertungssystem des Songcontests?

Wäre, was diesen Rankings noch fehlt, damit sie auf positive Zukünfte hinwirkten, also nur, dass sie nicht Aufmerksamkeit und Geld nach dem Prinzip des Winner takes it all verteilten, des der Teufel scheißt auf den größten Haufen, damit wir endlich alles für alle haben können? Damit endlich liebe Mäuse soft und solidarisch Erfolg anders definieren und leben können? Nicht so stark sein müssen? Und dabei ihre Top 3 irgendwas angeben?

- Martin Fritz