In einer Rezension des 2024er Musical-Films „Wicked“ wurde beklagt, dass der Film so lange Tanzszenen beinhalte, was eine bemerkenswerte Kritik ist – in etwa so, als würde ich nach einem Fußballspiel schreiben: Schade, dass alle immer Tore schießen wollten. Oder als würde wer über einen Abend in der p.m.k schreiben: Gestört hat nur, dass zuerst eine Band gespielt und hinterher wer aufgelegt hat.
Der Pressetour für „Wicked“ haben wir bekanntlich einen der schönsten Momente des gerade zu Ende gegangenen Jahres 2024 zu verdanken: Als die Interviewerin Tracy E. Gilchrist die Wicked-Darstellerinnen Ariana Grande-Butera und Cynthia Erivo mit der Feststellung konfrontierte: „People are taking the lyrics of ‚Defying Gravity‘ [=ein Song aus dem Musical] and really holding space with that“, nahm Ariana den Zeigefinger der sichtlich ergriffenen Erivo in die Hand. In späteren Interviews bekannten sämtliche Beteiligte, keine Ahnung gehabt zu haben, was passiert sei. Über diesen unbegreiflichen Moment wurde viel geredet und geschrieben, zum Beispiel in einem antikapitalistischen Podcast, den ich mir gerne anhöre, der werbefinanziert ist. Angesichts einer speziellen Werbung (dazu gleich mehr!) in der Ausgabe über das Holding-Space-Interview notierte ich mir (übrigens auf der Rückseite eines Bus-Tickets, das ich geschenkt bekommen hatte als Werbung für die Lichtershow Lumagica in Merano!) eine Frage, die ich mir bekanntlich oft stelle, nämlich: Wie wir so was eigentlich Außerirdischen erklären würden, wenn sie uns mal besuchen.
Liebe außerirdische Wesen, würden wir sagen, vieles im Netz wird damit „finanziert“ (it's a long story, liebe Aliens!), dass statt der gesuchten Dinge andere Sachen angezeigt werden, die Meuse dazu bringen sollen, sich etwas zu kaufen, das sie nicht haben möchten, weswegen diese Meuse für so genannte Adblocker bezahlen, also Programme, die verhindern, dass diese Werbung angezeigt wird. Und weil sie dabei aber immer wieder vergessen, welche davon eigentlich gut funktionieren (und sich das auch ändert), wird in den linksradikalen Podcasts, die sie hören, Werbung gemacht für Webservices, die für nur wenig Geld sämtliche nicht mehr benötigten Adblock-Abos automatisch kündigen. So haben wir also unsere letzte Zeit auf diesem Planeten verbracht, denn es ging halt nunmal leider nicht anders. Aja, es ging nunmal nicht anders, werden die Aliens verständnisvoll nickend sagen, bevor sie weiterfliegen zu weniger quatschigen Lebensformen.
Nun wurde in linksextremen Podcasts und an anderen Orten bereits viel über die Lyrics von „Defying Gravity“ gesagt und wissen die Leser*innen dieser Kolumne, dass dieser über 20 Jahre alte Song von Stephen Schwartz (der, was nur wenige wissen, in den 1990ern unter dem Pseudonym DJ Gestaltzerfall ein experimentelles Elektronik-Album veröffentlichte) den Bruch der beiden Hexen Glinda und Elfaba behandelt. Der Konflikt besteht (grob zusammengefasst) darin, dass Elfaba sich nicht mit dem eine faschistische Terrorherrschaft installierenden Wizard of Oz arrangieren kann und die Schwerkraft außer Kraft setzend flieht, während Glinda der Mut zu offenen Widerstand fehlt und sie bleiben (und das System von innen bekämpfen?) will. Während wir alle glauben oder hoffen, Elfabas zu sein (und die Figur auch zur Identifikation einlädt), ist die Wahrheit, dass die Zahl der Glindas (die noch dazu ihre einzige Liebe verraten und verlieren) in der Realität überwiegen wird. So weit – so bekannt.
Doch was sicher weniger Meuse präsent haben: Die Lyrics von „Defying Gravity“ erhielten bereits 2009 Raum, als die 9. Episode der 1. Staffel der Musical-High-School-Dramedy-TV-Serie „glee“ erstausgestrahlt wurde. Die beiden Hauptfiguren Kurt Hummel und Rachel Berry wollen darin beiden diesen Song singen, doch wird Kurt dies anfangs mit der Argumentation vorenthalten, der Song würde von Frauen gesungen. Kurt erzählt das seinem Vater, der beim Schuldirektor interveniert und bewirkt, dass Kurt und Rachel beide für den Song vorsingen dürfen und die geeignetere Person den Zuschlag bekommen soll. Weil in der Zwischenzeit aber ein queerfeindlicher Drohanruf bei Kurts Vater eingegangen ist und Kurt diesem weiteren Unbill ersparen möchte, trifft er absichtlich bei der Schlusszeile (Elfabas Text!) nicht das hohe F, für das der Song bekannt ist. Kurt entscheidet sich, obwohl er es anders könnte, als Elfaba wie Glinda gegen den offenen Konflikt, für das richtig Weitermachen im Falschen. Das alles erzählt das Kunstwerk mit einem einzigen falschen Ton. Und würden wir das Aliens erklären, sie würden verständnisvoll nickend sagen: Aha, denn es ging eben nicht anders.
- Martin Fritz