Der Zeitverfluggeschwindigkeit habe ich in dieser Kolumne bereits mehrere Lobliede gesungen. Ihr ist es zu danken, dass (im Gegensatz zu den dann aktuellen Sommerhits) zum Zeitpunkt Eurer Lektüre die zur Niederschrift aktuelle Debatte namens #HamburgerSchuleDokuGate sich älter anfühlen wird als News aus dem Mesozoikum.
Deshalb hier nochmal die Fakten: Die Hamburger Schule war ein in den frühen 1990er Jahren entstandenes Pop-Musik-Genre, das ein Dritteljahrhundert später zur Musealisierung anstand wie eben alle alten Dinge.
Kleiner Exkurs: Es fühlt sich vermutlich nur für so alte Meuse wie mich erstaunlich an, dass die 1990er inzwischen länger zurückliegen als in den 1990ern z.B. Woodstock (wer es nicht kennt: das war das Ende der 1. großen Pop-Musik-Epoche, in den 1990ern synonym mit „graue Vorgeschichte“) zurücklag (übrigens liegt zwischen dem Ende des 2. Weltkriegs und Woodstock gleich wenig Zeit wie zwischen Woodstock und Hamburger Schule). Steile These: Wir schätzen weiter in der Vergangenheit zurückliegende (insbesondere nicht selbst miterlebte) Zeiträume intuitiv länger ein als jüngere (selbst miterlebte) historische Zeiträume.
Im Zuge der handelsüblichen Geschichtsschreibung wurde also eine 2-teilige TV-Doku namens „Die Hamburger Schule – Musikszene zwischen Pop und Politik“ ausgestrahlt. Ausgewählte liebe alte Meuse erzählen darin schön ausgeleuchtet von früher, dazwischen kommen körnige Archiv-Videos und werden Schauplätze von damals besucht, nur sind dort halt heute nur mehr Filialen von Versicherungen und Vegane-Burger-Franchises.
Daraufhin meldeten sich auf dem Alte-Meuse-Medium Facebook Meuse wie Bernd Begemann, Kersty und Sandra Grether zu Wort, die maßgeblich an der Hamburger Schule beteiligt waren, in der Doku jedoch nicht zu Wort kamen. Das ihrige tat eine brisante Mischung aus sehr berechtigten Argumenten, dem Beleidigte-Leberwürste-Generalverdacht und der feministischen Kritik an der Autorin der Doku Natascha Geier, dass sie wegen ihres feministischen Narrativs, demzufolge Frauen in der HH-Schule unterrepräsentiert gewesen seien, in ihrer Doku Frauen unterrepräsentiert habe. Die Debatte verlief also genauso unsinnig und erkenntnisförderend wie sowas im Jahr 2024 eben abläuft. Zeitgleich erschien mit „Der Text ist meine Party“ von Jonas Engelmann auch eine Geschichte der Hamburger Schule in Buchform, aber weil ein Buch zu lesen anstrengender ist als 2h fernschauen, kam das in der Diskussion kaum vor.
Für mich ist #HHSchulGate der ideale Skandal: Ich bin nah genug, um alles zu verstehen und sogar emotional involviert zu sein, aber weit genug entfernt, dass für mich selber nichts at stake ist. So habe ich begeistert alle 365 Kommentare aller einschlägigen Threads gelesen – wenn ich nicht gerade selbst in verschiedene Schulen ging, um dort andere Meuse beim Schreiben von Texten zu begleiten aka Schreib-Workshops zu leiten (was Maus halt so macht um „vom Schreiben leben zu können“).
Wie alle sende ich dabei stets Ich-Botschaften und verpacke jede negative Kritik in ein Sandwich von Wertschätzung, würde also nie sagen: „Diese Doku ist ein Haufen Mist“, sondern: „Schön, dass sich jemaus dieses Themas angenommen hat. Ich denke nur, dass vielleicht als Titel ‚Meine subjektive Erinnerung an meine Jugend‘ besser wäre, um der Kränkung anderer mit einer anderen Erinnerung vorzubeugen. Ich habe sie aber trotzdem gern gesehen und mich an früher zurückerinnert.“ Angesichts so ähnlicher Feedbacks erreichte mich nun die Kritik, dass, wenn ich also selbst Quatsch dermaßen lobte, es fraglich würde, wie viel mein Lob tatsächlich wert sei. Der Verdacht steht im Raum, dass ich nur höflich und konstruktiv bin, und gar nicht wirklich begeistert.
So sehr das wahr ist und ich es als Problem erkenne, betrübt es mich, dass wir augenscheinlich so sehr von Konkurrenz korrumpierte Wesen sind, dass uns selbst Zuspruch nur wertvoll erscheint, wenn er rar ist. Ich denke da weiterhin darüber nach!
Doch genug von Vergangenheit und Gegenwart, zurück zur Zukunft: Ungefähr zeitgleich zur Hamburger Schule hatte seine zweite Jugend bekanntlich Rainald Goetz (die Kolumne berichtete!), dessen Essay-Band namens WRONG soeben erschienen ist. Das Verhältnis der Blautöne von Schutzumschlag und Einband dieses Buches ist exakt wrong und auch sonst – denke ich – kann das Buch uns vieles lehren beim beim Knapp-Daneben-Liegen. Mit anderen Worten: Es wird das Buch des Sommers 24 (wer hatte das auf der Bingo-Card?!). Der dazu passende Song ist der den Megatrend 24 Spicy Lesbian Pop losgetreten habende „Pink Pony Club“ der zeitgleich zum Erscheinen des größten Goetz-Bangers geborenen Chappell Roan. Have Fun!
- Martin Fritz